Erzählakademie

Fortbildung zum Weitererzählen

Wochenende Sagen

Links

zum Beispiel…

Sagewikipedia Sage

www.sagen.at

Bücher

Curt Englert-Faye 
https://maerchen.arpa-docs.ch/ (diverse vergriffene Bücher online)
  • Schweizer Märchen, Sagen und Fenggengeschichten; Steiner-Verlag
  • Alpensagen, Englert- Faye (vergriffen)

 

  • Bergmütter Quellfrauen, Spinnerinnen (Wallis) Ursula Walser-Bittiger Hier-und- Jetzt Verlag

über Sagen, deren Entstehen
  • Goldener Ring über Uri, E.Renner ISBN 978-3-033-05671-8
  • Berggöttinnen der Alpen, Heide Götter-Abendroth ISBN 978-7283-556-2

Sage

  1. Verhältnis zu Märchen u. Geschichte.
  2. Entstehung der Sage
  3. Wanderung und Weiterbildung.
  4. Die Arten der Sage
  5. Hauptformen der Sage, Erlebnis- und Helden-Sage
 
  1. Verhältnis zu Märchen u. Geschichte.

    Nach Begriff und Sprachgebrauch ist Sage eine Erzählung mit einem starken Einschlag von sonderbaren und über die sinnliche Wirklichkeit hinausweisenden Begebenheiten, die jedoch in der Regel ihren Geschehensboden und unmittelbaren Ansatzpunkt in der nahe liegenden Lebenswirklichkeit oder in der Geschichte haben.

Die Sage haftet daher mit ihren Motiven an bestimmter Örtlichkeit, meist in der Nähe ihrer Entstehung, spielt in bestimmter Zeit und hat zu Handlungsträgern meistens bestimmte Personen, und sie verfolgt nicht nur einen unterhaltenden Zweck, sondern den, zu belehren, mahnen, warnen oder zu erklären. Durch alles dies unterscheidet sich die Sage vom Märchen. Freilich ist die Charakteristik der Sage schwieriger als die des Märchens.

Die verschiedenen in einer Sage zusammenlaufenden Motive zeigen gar keinen spezifischen Volkscharakter

Man hat auch zu erwägen, dass viele Sagen nicht alt sind; heute gilt als Irrtum, spätere Geschlechter hätten bloss Sagenüberlieferungen aus grauer Vorzeit übernommen. Sie ist indessen auch nicht blosse Darbietung von Kuriositäten, wofür man sie Anfang des 19. Jh. hielt; sondern sie zeigt den lebensvollen Ausdruck von volkstümlicher Auffassung und Meisterung von Geschehnissen und Begebnissen überhaupt.

  Ist Sage dem  Wortsinn nach zunächst (ähnlich wie Märchen) eine auf mündlichem Wege weitergeleitete Kunde von etwas Vorgefallenem, so ist doch nicht jeder Bericht, jede Kunde, auch falls in fortgesetzten Überlieferungsstrom gebracht, Sage, sondern nur dann, wenn die Wiedergabe der (geschehenen oder erfundenen) Tatsache mittels der volkstümlichen Anschauung von unsinnlichen und unkontrollierbaren Mächten zu einer solchen Deutung übergeleitet wird, die eine leichte Anwendung auf ähnliche Situationen gestattet.

Das Märchen spielt in seinem eigenen von der grossen Welt unbestürmbaren Bereich und ist gegenüber der Ding- und Menschenwelt so gut wie land- und volk-, heimat- und zeitenlos; die Sage dagegen knüpft gern an bestimmte „historische“ Ereignisse an, wenn es auch bei ihnen weniger auf genaue historische Umrissenheit als vielmehr auf das Typische, nicht auf die Einmaligkeit sondern auf die Vorbildlichkeit ankommt. Ja eine rein typologisch aussehende Erzählung wie die von den Schildbürgern oder die vom Eulenspiegel wird Sage dadurch, dass irgend etwas von historischem Ansatz oder Kern in ihr vorhanden ist, während wir sie, so derselbe ihr abgeht, nicht als Sage ansprechen sondern eher als Fabel.

    Daher verlangt die Sage in höherem Grade als das Märchen eine Zustimmung zur erzählten Geschehensverkettung; das Märchen unter Umständen eine Zustimmung zu der es tragenden weltanschaulichen Idee, zumal zu dem ethischen Ausgang. Zwar sind die Personen der Sage nicht viel mehr als die des Märchens handelnde. Weder Kaiser Rotbart noch Karl d. Gr. noch der Rodensteiner noch die Jungfrau vom Lorleifels handeln. Das Geschehen steht auch hier vor dem Handeln. Das geht so weit, dass die historischen Personen, wenn sie in den Sagenzusammenhang eingehen, aus dem wirklichen historischen Zusammenhang ihrer Taten gelöst, in der Hauptsache das örtliche Sein und Geschehen gleichsam dekorieren; eine für die Person des Kaisers belanglose Burggründung kann es sein, die im Mittelpunkt steht (vgl. Gründungssagen).

Wohl aber stellt die Sage die Handlung in irgend welche, wenn auch noch so lose, Verknüpftheit mit höheren, guten oder unguten, Kräften, die entweder dem Menschen gelegentlich zu Gebote stehen oder von aussen an ihn herantreten. Die historischen Schlachthörner Karls d. Gr. mögen wie ein zeitgeschichtliches Kolorit erscheinen, das den Hörnern des Eibstieres beigegeben wird, während diese letzteren Hörner aus dem Gefüge der Wassersymbolik stammen.

Das allgemeine Volk, das so gern dem Geheimnisvollen der Geschehnisse nachsinnt, enträtselt das Wunderbare durch eine eigene Symbolik, die es deutend an die Stelle des Historischen setzt. Der Glaube gegenüber dem Erzählungsstoff bezieht sich folgerecht auf den tiefsten Sinn des Wunderbaren darin und dahinter, während man den äusseren Begebenheiten grossenteils nur geringes Interesse entgegenbringt, wenn auch sicherlich nicht ein so geringes wie im Märchen. Denn die Könige und Prinzessinnen des letzteren bleiben am liebsten namen- und zeitlos; in der Sage ist es jedoch nicht „ein“ König, sondern der ganz bestimmte und bekannte, der als Held Inhaber überragender Kraft ist.

Nur ist das in der Sage von ihm Erzählte nicht historisch, wenn es auch einem Charakterzug von ihm entsprechen mag. Die Tiere in den Tier-Sagen und die halbtierischen Wesen finden sich in der Sage wegen irgend welcher Eigenarten ihres Wesens, die eine Kunde aus anderer Weltdimension in sich schliessen; und dass es sich mit den Spuk-, Teufels- und Schatz-Sagen ähnlich verhält, braucht nicht erst nachgewiesen zu werden.

Es ist jedoch zu beachten, dass durchaus nicht alle Sagen, die sich in deutscher Überlieferung finden, ursprünglich aus deutschem Geiste hervorgewachsen, sondern nicht wenige erst im MA. und noch später aus der Fremde eingewandert sind und dass es ausserdem viele gibt, welche des Volks- und Zeitgepräges überhaupt entbehren. In diesem tritt wiederum eine besondere Ähnlichkeit zum Märchen zutage, indem in diesen Sagen die primitiv-schöpferische Phantasie einfache Erlebnisse einer Volksschicht gestaltet. Mit Recht sagt daher Ranke: „Es ist noch niemandem gelungen und wird bei der Dürftigkeit unserer Überlieferungen aus dem deutschen Heidentum kaum je gelingen, auch nur eine einzige der heutigen Volks-Sagen mit Sicherheit als zum Erzählungsschatz der noch unbekehrten deutschen Stämme gehörig zu erweisen“. Von irgend welchem rein volkstümlichen Denken und Empfinden legt jedoch die Sage stets Zeugnis ab.

 

 

  1. Entstehung der Sage

 Unter allen diesen Voraussetzungen darf man behaupten, dass die Sage das Archiv der Urgeschichte eines Volks ist und sohin Untergrund dessen, was als Aberglaube erscheint nicht etwa erst später sondern, wie gleich näher beleuchtet wird, gleichzeitig mit der Entstehung der Sage, die häufig noch aus dem Felsgestein des Aberglaubens gebildet wird. Etwas kühner nennt man die Sage selber dramatisierten Aberglauben´. Folge des hiermit bezeichneten Verhältnisses ist, wo es sich um älteste Sagenüberlieferung handelt, dass aus verblassten, abgeschobenen Sagen sich ein Rückstand abergläubischer Vorstellungen erhält.

Dies ist namentlich bei Lokalsagen der Fall, die in der Regel Natur- oder Geister-Sagen sind, die sich an irgendwelche auffallend geformte Felsen, erratische Blöcke, Schluchten, seltsame Pflanzen oder Steinbildungen, Irrlichter, Nebelmassen, Gewitterwolken usw. ingleichen an die lokale Geschichte und deren Erzeugnisse, Ruinen, Trümmer u. dgl. anschliessen, um das in ihnen den menschlichen Sinnen entgegentretende Ungewöhnliche in einem prägnanten Zuge zu erfassen. Derartige Sagenbildung ist durchaus nicht in der Gegenwart erschöpft, sondern vollzieht sich andauernd weiter.

Naturdeutende Sagen sind in höchster Mannigfaltigkeit in aller Welt zu finden, denn die Natur fordert immer wieder zur klärenden Bearbeitung ihrer Prozesse auf. Nicht selten gehen sie aus den bereits gefügten Formen des Aberglaubens hervor oder benützen eine solche, um den Begebnisstoff zur Sage zu formen. Manchmal sind es ganz einfache Erklärungen einer solchen Erscheinung, manchmal ätiologische Umdeutungen. Wenn Glühwürmer zu wirklichen Lichtern werden, mit denen zwergische Wesen spazieren gehen, ist ersteres der Fall; letzteres etwa in der Sage vom Homberg: Wer sein Ohr an ihn legte, konnte drinnen die Zwerge klopfen und hämmern hören; denn viele von ihnen sind vorzügliche Schmiede. Die Bauern haben ihnen früher oft einen Pflug oder sonst ein Gerät vor ihre Höhle gelegt, die sie am nächsten Morgen ausgebessert vorfanden. Dafür legten sie ihnen ein Geldstück oder einen Pfannkuchen hin. Nun hat sie aber mal der Hüggelmeier geprellt, indem er weniger als verlangt war hinlegte und mit dem ausgebesserten Pflug davonraste. Aber ein glühendes Eisen schoss hinter ihm drein heisst es hier, und nicht, dass seitdem die Zwerge den Menschen nichts mehr ausbesserten was häufiger Schluss ist, um den Wandel der Zeiten begreiflich zu machen.

Sonst nämlich wird die Ätiologie nicht nur auf den Anfang sondern auch auf das Aufhören einer seltsamen Erscheinung bezogen; man denke an die vielen Geschichten von geneckten oder getäuschten Zwergen. ñ Oder es soll erklärt werden, wie ein ungeheurer Steinblock mitten in einem Wald oder Feld steht, den kein Mensch dorthin gebracht haben kann: dann war es ein Riesenwurf. Und es wird weiter gefragt, weshalb der Riese den Wurf tat; vielleicht um jemanden zu bestrafen, der ihn beleidigt hatte; oder der betreffende Riese wird mit dem Teufel identifiziert, der an Gott Rache nehmen wollte, indem er die Kirche des Dorfs bewarf; aber natürlich verfehlt der Teufel das Gotteshaus ….

Solche Natur-Sagen entstehen immer neu. Märkische und schlesische Schäfer, von Ort zu Ort und von Provinz zu Provinz ziehende Müllerburschen, Brauer- und Schmiedegesellen haben sich als Bringer neuer Sagen einen Ruf erworben gehabt. Eine Grippenepidemie erzeugte durch Ausdeutung eines lange anhaltenden üblen Geruchs eine neue Sage vom Pesträuchlein. Eine andere ganz moderne Grippen- Sage erzählt, ein Bursch machte einen Babautsch (menschliche Figur) und sprach: Das ist jetzt die Grippe, aber wir wollen tanzen, uns soll sie nicht unterkriegen. Sieben der jungen Leute sollen nun bald gestorben sein, weil sie mit so ernsten Dingen Spott getrieben.

Ausdeutungen von menschähnlichen Gestalten in Gemäuer wird, nachdem die alte Deutung in Vergessenheit geraten, neuerdings zur Sage von einer neugierigen und eingemauerten Nonne gestaltet; und zwar, obgleich die geschichtliche Unmöglichkeit von vornherein auf der Hand liegt, da an der Stelle nie ein Frauenkloster gestanden hatte.

In beiden Fällen lässt sich eine das Tatsächliche sehr entstellende Phantasietätigkeit bemerken, bisweilen auch krankhafte Phantasie. Z.B. der in zahlreichen Varianten wiederkehrende Schimmelreiter, schon von Uhland für ein Nebelwesen gehalten, erscheint einem Mann aus Stockach bei Tübingen, der mit seinem Sohn vom Markt heimkehrt, als kopfloser Reiter (NB. der Nebel macht selten die genauere Kopfform möglich in seinen Schwaden); die beiden fallen den Berg hinunter und können nicht wieder heraufkommen, fanden sich aber an einem grossen Wasser, an dem der Schimmelreiter auf und ab jagte, bis er darüber hinreitend verschwand.

    Allein diese Betrachtung darf nicht zu der Verallgemeinerung verleiten, dass alle Sagengestalten, zumal die grotesken, Phantasieerzeugnisse seien, d.h. phantastische Umdeutungen von Naturbegebenheiten. Gerade der Schimmelreiter vieler Sagen wird wohl mit Recht von Forschern für Umsetzung einer alten mythischen Glaubensgestalt in die Sagengestalt gehalten, etwa Wotans.

Hat doch die gewaltsame Ausrottung des alten Glaubensgutes um die Wende vom 8. zum 9. Jh. die alte Göttermythe genötigt, ihre Zuflucht in der Sage zu suchen. Eine alte Chronik berichtet, Karl der Grosse habe durch die Schreibermönche alle alten Sagen und Lieder der deutschen Volksstämme sammeln und aufschreiben lassen; aber plötzlich sei ein gewaltiges Brausen entstanden, das die Mauern erzittern machte, und die emporlodernde Glut habe die herrlichen Sagenschätze in Wotans wildes Heer hinaufgeschleudert, wobei eine Stimme zu vernehmen war: „Du hast unser Volk erschlagen, das freie Geschlecht der Sachsen vernichtet, uns aber sollst du ewig nicht in deinem Joche bannen!“.  Auf Grund unsrer Kenntnis von Kaiser Karls Absicht wird angenommen, dass jene Chronik das an den Sagen begangene Zerstörungswerk Ludwigs des Frommen auf jenen überschrieben habe. Jedenfalls enthält die Sage auch in diesen mythischen Umbildungen nicht reine Phantasieerzeugnisse; wozu vgl. den Artikel Mythologie, Mythos.

Dass andererseits krankhafte Phantasie starke sinnbildende Kraft entfaltet hat, darauf hat Ranke hingewiesen. Insbesondere kommen hierfür die Sagen von Luftentrückungen in Betracht, die nach Ranke an Erlebnisse auf psychopathischer Grundlage gemahnen.

Der typische Verlauf solcher Sagen aus Süddeutschland, der Schweiz und Österreich lässt einen einsam wandernden Mann dem tobend heranziehenden wilden Heer begegnen, von dem er, weil er sich ihm entgegenstemmt, oder ihm zuruft, in die Luft entführt wird, so dass er erst nach langer Zeit in die Heimat heimkehrt. Ein Mann erzählt, auf seinen Anruf hin sei er von der furchtbaren Gewalt des Wirbelwindes fortgerissen worden. Als der Tag gebleicht, sei er zu sich gekommen und habe sich mitten in wildem Gebirge befunden. Die drei Tage seitdem habe er zur Heimkehr ins Dorf gebraucht. „Der Knecht lebt noch und ist jetzt Hirte in Stützheim“. Die spezifischen epileptischen Dämmerzustandsreisen geben ganz ähnliche Erlebnisse. Daher: „Die Sagen von der Luftfahrt mit dem wilden Heer sind weder Überbleibsel aus dem Erzählungsschatz des germanischen Heidentums, wie etwa Grimm und vor allem Simrock das wollten; der Wundermantel, auf dem Odin seinen Liebling Haddingr durch die Luft über Land und Meer in die Heimat trägt, die Luftreise mit Teufels Hilfe, durch die Heinrich der Löwe, Thedel v. Walmoden und andere Sagenhelden gerade zur rechten Zeit zur Gattin zurückkehren, haben mit unsrem Motiv direkt nichts zu tun oder brauchen wenigstens nicht herangezogen zu werden, wenn wir die Entstehung unseres Motivs begreifen wollen.

 Noch weniger stammen diese Sagen aus jener noch viel älteren Periode primitivsten Denkens vor aller Göttervorstellung und geben etwa in naiver Auffassung am Himmel beobachtete Ereignisse wieder, wie Wilh. Schwartz und Elard H. Meyer das vermuteten, sondern es handelt sich hier um rein individuelle Erlebnisse, bei deren Apperzeption und Formgebung die alten Vorstellungen das Erfassungs- und Darstellungsmittel sind.

Auch die Sagen von Begegnungen mit dem Aufhocker, dem Huckup, der nachts dem einsamen Wanderer auf die Schulter springt und sich tragen lässt, bis der Träger atemlos und verängstigt unter der Last zusammenbricht, wie manch andre Sage aus solcher Nähe des Spukreichs ist einer krankhaft erregten Phantasie zuzuschreiben, die ihr Erzeugnis als Wirklichkeit hinstellt. Die Psychopathologie hat auch ihr Wort zu sprechen über die schwere Last, die dem Menschen vom wilden Jäger aufgebürdet wird und durch die er einen Buckel bekommt, von dem er „wann eben der psychische Zustand sich ändert  befreit wird.

Es ist ein ausgesprochener Erlebnischarakter, ein Gesichts-, Gehörs- oder Riecherlebnis, das der Sage in solchen Fällen zugrunde liegt. Das Erlebnis wird aber mittels aller möglichen vorhandenen Anschauungs- und Vorstellungskomplexe angeeignet, daher mit Zügen aus einfacher Umgebung, aus der nächtsbekannten Geschichte, aus der Religion und Magie, aus Mythus und Fabelreich ausgestattet; und wenn das schon am Anfang der Bildung einer Sage geschieht, wie viel mehr erst während ihres Ganges durch ein Volk, durch Völker und durch Zeiten!

  1. Wanderung und Weiterbildung der Sage

 Zunächst ist zweifellos eine fort und fort weitergeführte Abwandlung der Einzelzüge einer und derselben Sage beim blossen Weitererzählen festzustellen. Das Ergebnis dieses Prozesses kann sein, dass sämtliche Einzelzüge variiert werden. Daher ist anzunehmen möglich, dass Sagen, die auf den ersten Blick verschwindende, immerhin aber doch einige schwach gemeinsame Züge aufweisen, dennoch desselben Ursprungs sind und Varianten einer Urform der betreffenden Art bedeuten. Wenn ein historischer Name mit dem Kern der Sage verbunden ist und bleibt, so ist es leicht, die Verwandtschaft zu erkennen, ist ihre Leugnung kaum durchzuführen; wie z.B. bei den jüdischen, arabischen und deutschen Formen der Erzählung vom Besuch der Königin von Saba bei Salomo.

 In anderen Fällen rückt das Fehlen solchen gleichen Kerns die Wahrscheinlichkeit gemeinsamen Ursprungs in die Ferne und möchte trotz strengster Ähnlichkeit in markanten Strichen auf verschiedenen Entstehungsort und – modus geschlossen werden. Ein Problem dieser Art gibt die Materie des Tell-typus auf.

 Es bleibt unverwehrt, die aus dem 12. Jh. bekannte persische Form, nach der ein König seinem Lieblingssklaven öfters einen Apfel auf den Kopf legte, um ihn herabzuschiessen, worauf der Sklave jedesmal die Angstneurose bekam, mit der norwegischen aus dem 13. Jh. zusammenzunehmen, nach welcher König Nidung von Eigil die Schussprobe abverlangt, vom Kopf seines dreijährigen Söhnchens einen Apfel abzuschiessen; Eigil, der drei Pfeile zu sich genommen, antwortet dem König auf die Frage nach dem Zweck der beiden anderen Pfeile, nachdem er mit dem ersten den geforderten Schuss getan (ganz wie Teil dem Landvogt), dass diese Pfeile dem König für den Fall eines Fehlschusses zugedacht waren. Ferner gehört eng dazu die dänische Fassung, nach der König Harald, der in dem von ihm selber provozierten Wettschiessen unterlag, daraufhin von seinem Rivalen verlangt, dass er eine Haselnuss vom Haupt seines Bruders schiesse, was glücklich ausgeführt wird. Eine andere Form begegnet in England, eine weitere ist die von Puncher aus der Heidelberger Gegend, der in Bezug auf den zweiten Pfeil die Tellantwort gibt.

Kommen wir hier auf einen altarischen Sagenkorn oder Sagenkreis? Ist solcher Untergrund auch vorhanden bei dem Variantenkreis der treuen Weiber von Weinsberg? Die ohne Schwierigkeit zu bejahenden Fälle solcher Art zeigen eine ausserordentliche Wanderfähigkeit der Sagen. Andere hingegen, welche die Bejahung jener Frage erschweren oder ablehnen möchten, wollen als Beiträge zum Elementargedanken gewertet werden.

Bieten Sprach- und Volksgrenzen dem Wandertriebe der Sage keinen Halt, so muss gleichwohl in jedem einzelnen Falle gesondert die Frage aufgeworfen werden, ob die betreffende Sage mit diesem Inhalt und in dieser Fassung nicht doch selbständig aufgetreten sein könne. Denn was einmal als Erzählungsstoff geboten wird, kann auch mehrere Male aufscheinen, da ja auch die Anlässe zur Bildung eines Sageninhaltes sich wiederholen können. Ähnliche Situationen helfen vor allem einer Sage, die entscheidenden Blick ins Volksleben wirft, zur Auferstehung. Indem auch so Sagenstoffe wandern und sich verändern, entschwinden und neu erstehn, werden auch ihre mythischen Bestandteile abgewandelt. Aus Göttern werden Helden oder umgekehrt aus Heroen Götter, aus den drei germanischen Schicksalsgöttinnen z.B. drei weisse Jungfrauen, die unter drei Gesichtspunkten bevorstehendes Geschick künden in der ins Jahr 1832 verlegten Sage von der Begegnung des Försters im Hartwalde bei Karlsruhe mit den drei weissen Gestalten. Ebenso ändern sich die Personen und die Örtlichkeiten, wenn die Sage sprungweise in verschiedenen Gegenden bekannt wird. Dabei wird sie unter Umständen in allen ihren Teilen neu geprägt, wobei das Bewusstsein von ihrem früheren Vorhandengewesensein verloren gehen kann. In diesem Sinn spricht man auch vom periodischen Auftreten der Sage.

   

 

 

  1. Die Einteilung der verschiedenen Arten von Sagen

 

 ist mittels mehrerer Prinzipien versucht worden. Die äusserlichste nach Landschaften ist genötigt, dieselbe Sage oft zu wiederholen, macht jedoch dadurch die Verbreitung einzelner Sagen ebenso wie den Einfluss der geographischen Eigentümlichkeiten bei der Stoffgestaltung besonders anschaulich. Dem Bedürfnis nach Anschaulichkeit dienen vor allem die Sammlungen der Sagen nach Landschaften und Ländern. Der Versuch einer chronologischen Anordnung und Gruppierung stösst naturgemäss auf die grössten Widerstände, und die Brüder Grimm haben sich gegen die chronologische Gruppierung ausgesprochen; zugleich gegen die sachliche. Sie beobachteten, dass eine Einteilung in Zwergen-, Riesen-, ätiologische usw. Sagen deshalb daneben schiessen müsse, weil in fast jeder Sage die verschiedenen dabei als Einteilungsgründe benützten Elemente verwertet und miteinander verwachsen sind.

Wehrhan meint dagegen, dass doch in jeder die Hinneigung zu einer der so entstehenden Gruppeneigentümlichkeiten vorschlage.

Den kritischen Einwendungen nach der einen und anderen Seite sucht Meiche durch folgende Einteilung zu entgehen: Hauptteile mythische und geschichtliche Sagen (denen als 3. Hauptteil die romantische oder literarische angereiht wird, die jedoch für die eigentliche Sagenforschung von weniger ausschlaggebender Bedeutung ist).

Die mythischen Sagen teilt Meiche nach den darin hervortretenden Geistwesen oder, wo solche fehlen, nach Begebnissen und dinglichem Gegenstand und erhält die 6 Teile:

  1. Seelensagen (a) Körper und Seele, b) Seelenheer und Geisterkämpfe, c) bergentrückte Geister, d) Tiergespenster, e) Gespenster in Menschengestalt, f) Spuksagen, Poltergeister, g) Irrwische, Feuermänner, Druckgeister, Binsenschnitter.

2 Elbensagen (a) Hausgeister, b) Luft- und Erdgeister, c) Wald- und Feldgeister, d) Wassergeister).

  1. Dämonen- und Göttersagen (a) Tierdämonen, b) Bergdämonen, c) Winddämonen, d) Riesen, e) Götter).
  1. Teufelssagen (a) der Teufel, b) Teufelsbündnisse, c) Zaubersagen). 5. Wundersagen. 6. Schatzsagen (a) Glocken- und b) eigentliche Schatzsagen).

Die geschichtlichen Sagen teilt M. in

  1. Landesgeschichtliche (a) aus der Urzeit, b) aus religiösen Bewegungen, c) aus Kriegsnöten, d) aus Fehdetagen, e) aus den Tagen der Pest).
  2. Ortsgeschichte (a) Sagen von Gründung und Benennung von Orten, b) Bergbausagen, c) Sprungsagen, d) Steinkreuzsagenn, e) Bausagenn, f) Handwerkssagen, g) Spottsagen, h) Verschiedenes).
  3. Familiengeschichte (a) Geschlechter-, Helden- und Schilds.n, b) Sagen über einzelne Personen).

    Mit diesem Schema könnte vielleicht der Versuch Wundts überholt erscheinen, der aus der Entwicklungsgeschichte der Sage drei Stufen herauslesen will, die Orts- und Stammessagen, die Helden- und, aus ihr hervorgehend, die Göttersagen als aufsteigende Formen; so jedoch, dass die niederen Formen nicht aussterben, wenn die höheren entstanden sind, in ihrem allgemeinen Erzählungsgang aber deutlich gegenübertreten, anderseits Orts- und Stammessagen dauernde Bestandteile auch der spätesten Sagenbildung bleiben.

Indessen wird es gerade eine Aufgabe zukünftiger Sagenforschung sein, die von Wundt betonten Momente zwecks des Verständnisses der zeitlichen Aufeinanderfolge der hauptsächlichsten Grundformen der Sage zur Geltung zu bringen, ihnen näher nachzugehen und zu erkennen, was daraus folgt, dass der Örtlichkeitsfaktor in der ganz überwiegenden Zahl der Sagen ein ausserordentliches Übergewicht besitzt. Wenn man unter diesem Eindruck in die lokal bestimmte geistige Urzeit des Volks zurückzugehen trachtet, so erscheinen Seelen- und Geistersagen (die irgendwie von Tod und Verstorbenen handeln, und ätiologische Stammes- und Ortssagen im Vordergrund. Diese beiden Gruppen liessen sich etwa als Natur- und Kulturs.n aufteilen, falls man gewillt ist, die Gespenstersagen ebenso wie die Dämonensagen zu ersteren zu rechnen (was aber oft auf erhebliche Schwierigkeit stossen wird). Ganz wird man freilich um eine Kreuzung nach diesen beiden Gesichtspunkten nicht herumkommen, ohne zu andern unliebsamen Wiederholungen und unglücklicheren Überschneidungen genötigt zu sein.

 

 

 

  1. Hauptsagen; Helden- Natur- und Kultursagen

 

Wenn man sich nun einige Hauptgestalten an Beispielen verdeutlicht, so lassen bereits die Sagen der Primitiven erkennen, wie leicht, ja wie wesenhaft sich mit der Natursagen die Elemente der Kultursagen und der Heldensagen verbinden.

Nehmen wir die ganz einfache Sage von dem Mann, der ein Licht auf der Stange trägt und damit den Mond anzündet, der seitdem vorhanden ist und allabendlich angezündet wird, so sieht man das Ineinandergreifen der genannten Momente in solchen einfachen erklärenden Sage Dasselbe ist bei den ätiologischen Sagen der Fall. Wird ein grotesker Fels oder Baum damit erklärt, dass er der Überrest eines gewaltigen halbmenschlichen-halbtierischen Wesens ist, eines Urfahren eines Klans des Stammes, dem der Klan seine Existenz und sein Wissen samt seinen Fähigkeiten verdankt, so bewegen wir uns bei der Apperzeption dieser Vorstellungen zwischen Natur- und Kultur-sowie zwischen Dämonen-, Helden- und Götters. Die Neugestaltung solcher Sage von einfacherer Art erfuhr ich, als ich mich mit einem Arussi-Galla im südlichen Abessinien über die Sitte seines und aller Nachbarstämme, nur rohes Fleisch zu geniessen, unterhielt; er sagte mir, das Feuer habe erst sein Grossvater über die Berge von Süden her geholt; und seine umstehenden Landsleute schienen das zu bestätigen. Natürlich ist der Gebrauch des Feuers dort viel älter.

 Die Ätiologie ist die häufigste Form der Orts- und Stammessage, welche selber die ursprünglichste Weise aller Sagen zu sein scheint. Man fragt nach dem Woher auffallender Erscheinungen der Umgebung, mächtiger Bauten, der steinumrandeten Gräberstätten, die nicht als solche erkannt sind, des singenden Tons oder Glockenklingens auf Meeresgrund (Untergang von Städten wie Vineta) und weiss bisweilen auch etwas über die Veranlassung solchen Geschehens zu sagen.

Bei bedeutenderen Örtlichkeiten pflegt die Idee des Unheimlichen, des Zauber- und Spukhaften stärker zu werden. Weiter erscheinen als Träger des Unheimlichen die Inhaber gewisser Berufe, die aus alter Vorstellung her mit Teilen der Geisterwelt in besonderer Berührung stehn: der Schmied, der Bergmann, der Glaser. Der erste hat zu Gegenspielern gern Zwerge und Kobolde, die beiden anderen den Berggeist, den Rübezahl, der Jäger den Waldschrat. Falls aber das Unheimliche nicht in dieser Weise personhaft oder an einen Dämon gebunden ist, ist der bestimmte Ort durch es ausgezeichnet oder ein dort befindlicher einzelner Gegenstand. Natürlich pflegt eine solche Ortssagen den lokalen Charakter darin zu bewahren, dass sie in der Regel auf das begrenzte Gebiet der Umwohner des als unheimlich empfundenen, verrufenen Orts beschränkt bleibt. Der Inhaber der (guten oder bösen) übermenschlichen, unheimlichen Kraft ist zunächst streng lokal gebunden, tritt jedoch bisweilen in die Weite hinaus. Die den fleissigen Zwergen zugehörigen Schmiede haben an der leichten Beweglichkeit des Zwergengeschlechts teil (vgl. die wandernden, plötzlich an anderem Ort auftauchenden „Venediger“- Zwerge). Der „Schuhmacher“ im Wetterloch oder in der Felsenhöhle (nord. Schuhschmied). Sohlenhämmernd, war er vielleicht Anlass zum „ewigen“ und wiederkehrenden Schuster, der dann die Wolkenschuhe über die Erde trägt.

    Unter den Stammessagen haben die Abstammungssagen lange Zeit eine besondere Rolle gespielt. Diese lassen sich bis in die primitivsten Urfahrensagen hinaufverfolgen; diese letzteren wiederum nehmen gern die Gestalt von Wandersagen an. Schon da sind es stets irgendwelche Erlebnisse, die in die sagenhafte Erzählung gekleidet werden: wir haben es mit der Erlebnissage. zu tun. Ein anderes Beispiel einer solchen ist die Pestsage, eine reine Ortssage, in der der Pestdämon oder -drache die Hauptgestalt ist, während der von ihm gepeinigte Mensch ohne jegliche Individualbedeutung ist: nicht der einzelne Erlebende, der ja nichts vom Gewöhnlichen Abweichendes erlebt, sondern das Erlebte allein wird durch die Sage betont. Selbst eine Natursage wie die von der Prinzessin Ilse, die allmorgendlich mit dem ersten Sonnenstrahl hervortritt, sich im Flusse zu baden, gehört hierher;

Erleben und Wunsch mitsammen fügen die Erzählung. Hier wie in den Sagen von der Albin Frene, von Ursula, in den Alpsagen wird selbst die dämonische Gewalt als die ungenannte geheimnisvolle finstre Macht eingeführt, wie es in der Primitivzeit üblich war. Z.B. die Kuh wird im Stall während der Nacht getötet und wiederbelebt, da sie in ermattetem Zustand daliegend angetroffen wird; das Pferd ist vom Alp abgehetzt worden. Was der Mensch an Druck- und Erschöpfungszuständen an sich erfahren hat, das überträgt er hier auf das Vieh. Es ist verständlich, dass man den Alptraum und das Erwachen aus ihm als Sterben und Rückkehr ins Leben schildert. Drum steht so auch in manchen Sagen der Mensch selber als der Getötete und Wiederbelebte da. Wenn Hexen aus dem Mädchen im Walde ihre Speise kochen und das Mädchen nach der Wiederbelebung nicht wieder ganz frisch wird, sondern dahinwelkt41), so wird das von vielen wohl mit Recht auf ein ªTraum´-Erlebnis gedeutet, d.h. auf ein unbewusstes Erfahrnis von etwas innerlich Strukturiertem, und erinnert an die von Primitiven als böse, schwarze Magie gedeutete Erfahrung des schnellen Hinsiechens, das auf Fett- und Lebenssaftentziehung seitens des schwarzzaubernden Feindes beruhe42). Die Betontheit dieses Moments in der Sage beleuchtet das reiche Material davon in den Menschenfresser-, Blutsauger-, Vampir-, Martensagen. Das entgegengesetzte Motiv kommt dagegen zur Geltung in den Sagen von den Nachtweiblein, die spinnend nächtlicherweile des Menschen Tageswerk zu Ende führen; vom Klabautermann, der auf dem Schiff wie die anderen Kobolde im Hause dem Menschen Arbeit abnehmen; von den kleinen und wilden Leuten, den Moos- und Holzleuten, Wichteln und Fanggen, Saugen und Wasserleuten usw. Die alle sind durch die Völker hin in ähnlichen Formen verbreitet. Die von ihnen handelnden Sagen lassen sich im wesentlichen als Erlebniss.n bezeichnen, in denen das ‹bergrosse, Gewaltige, Unsinnlich-Unheimliche von aussen in die menschliche Sphäre hineintretend erlebt wird, worauf dies Erlebnis in seiner Erzählungsform anschaulich festgehalten wird.

 In den Heldensagen, die später aufgetreten sind, und deren Ausbildung wir besonders in Griechenland, Eran, Indien, Babylonien, bei den Kelten, Finnen, Germanen und Russen verfolgen, wird das Gewaltig-Unheimlich-Übergrosse als innerhalb der menschlichen Wesenssphäre vorhanden geschaut und in der Gestalt des Helden erblickt und geehrt. Den Hintergrund dieser Heldensagen bilden in der Regel nationale Kämpfe und Wanderungen (vgl. die nordischen Wandersagen), Staaten- und Städtegründungen und -zerstörungen, die oft hinüberführen und auslaufen in die langen Irrfahrten (Odysseen) des Haupthelden und seiner Getreuen. Der historische Rahmen, der durch jenen Ansatzpunkt geliefert wird, ist von Anfang durch den auf das Historische abschwächend wirkenden mythisch-poetischen Kern gesprengt: der Held wird zum Heros gestempelt, und schon seine Geburt und Kindheitsentwickelung weisen übernatürliche Züge auf. Dadurch ist nicht etwa schon eine Richtung auf den Kultus der Person hin gezogen. Wohl aber will der Hörer der Sage im Helden und in den Helden zugleich eine Begegnung mit der übersinnlichen Sphäre haben. Dass die Sage solcher Art einem religiösen Bedürfnis entspricht, ist nicht zu leugnen; das religiöse Gut tritt dann aber schon in jener Form auf, welche dem Aberglauben zugerechnet wird; stark gezeichnet in den Berserkern, die deshalb auch in der Sage, wo sie sich sehen lassen, keine Nebenrolle spielen. Doch welch eine Verschiedenheit zwischen der Odyssee und dem Nibelungenlied, gerade in dieser Hinsicht, und dann wieder zum Mahabharata! Man darf sagen, dass unter diesen drei Sagen die deutsche am wenigsten Magisches aufweist und die Beziehung zur unheimlichen Sphäre am schwächsten betont. Allerdings welcher Unterschied wiederum zwischen dem Hildebrandlied und Jung Siegfried! Die sich ausbildende Sagenrichtung hat indessen in den nordischen Sagas gewisse Vorläufer.

[Lexikon: Sage. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Sage 20643

(vgl. HWA Bd. 7, Sage 871 ff.)]

 

 

 

 

24 Sagen Lauterbrunnetal

Die Goldader in der Chorbalmhöhle

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Als der Eisstrom vor tausend und abertausend Jahren den Taltrog von Lauterbrunnen hobelte, da wurde auch die Chorbalm aus dem harten Kalk gewaschen und gescheuert. Hinten in der finstern Höhle führen enge Windungen steil nach oben in den geheimnisvollen Leib des Berges, es weiss niemand wie weit. Aber viele wissen, dass tief im Innern eine Ader aus glänzendem Golde sein soll. Ein Mann aus dem vordem Grund wollte die reiche Ader ausgraben, bohrte und sprengte, tage- und wochenlang, aber fand nichts. Jeder wollte ihn darum auslachen. Man hielt ihm vor, was er da finde, das könne man die Lütschine hinaus in den See schicken. Pootz — Million — da biss er ihnen in den Stecken, denn er hoffte seit Jahren ohn Unterlass im Geheimen auf ein grosses Glück.

Von ennet dem Brünig liess er einen Goldschmecker kommen und befragte ihn, wie weit im Berge drinnen die Ader liege. Der Schmecker kam mit einer Wünschelrute. Gabelrute von einem Haselstrauch, bei Vollmond geschnitten und die Spitzen mit Eisen beschlagen, denn zur Auffindung von Gold ist das unerlässlich. Er nahm die beiden Zinken der Gabel in Kammgriff lose in die Hände. Die Spitze der Goldwünschelrute waagrecht bergwärts gerichtet, schritt er bedächtig und langsam mit dem Lauterbrunner in die Chorbalm ein. Am hintern Ende sahen sie im Schein des Öltägels, (Öllicht) dass die Spitze der Rute nicht nach unten wippte, wohl aber nach dem Innern des Berges. Der Rutengänger machte ein Gesicht, als ob er Essig schlucke, und als der Schatzgräber ihn fragte, wie weit drinnen das lautere Gold wohl noch liege, da schüttelte er im Dämmerschein des Öllichtes den Kopf, hielt die rechte Hand ans Ohr und sagte ernst: „Jetzt zieht der Sigrist weit drüben in Habkern am Strang der Totenglocke, sie tragen eben wieder einen durch das Dorf. So wenig, so wenig der Teufel ein Kreuzträger ist, findest du hier Gold; das ist so weit im finstern Schoss des Berges drin, so weit der Habkernsigrist zu dieser Stund von uns!“

Der Goldgräber liess vor Schreck den flackernden Tägel fallen, und wie sie wieder draussen vor der Balm standen, da giftelte er ihn an: „Du Hexentopfgucker— du mit allen Wassern gewaschener Besserwisser, das glaub ich dir nicht! Wenn du durch alle Wände gucken kannst, so sage mir, was macht meine Alte daheim — just zur Stund?“ A.. aber — den Goldschmecker, den bekam er nicht ins Garn. Der besann sich nicht eines Augenblickes Länge: „Euer Eheweib, das zieht jetzt grad ein frisches Hemd an.“

Darauf ging der Mann nach Hause zu seinem Weib, um dem Fremden darzutun, dass Lügen kurze Beine haben. Wie staunte er aber, als es ihm bestätigte, dass es zur besagten Zeit wirklich sein Hemd gewechselt habe!

Nach diesem bösen Bericht ging der enttäuschte Goldsucher flugs wieder hinein in die Höhle, holte all sein Werkzeug, gab sein nutzloses Tun auf und zahlte die Kosten.

Heute steckt die funkelnde Ader noch immer drinnen, weit hinter der hintersten Wand der Chorbalm, mitten im Herzen der Berge.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Das Kriegsloch im Giessengletscher

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Oben am Jungfrauberg, in der weiten, weissen Mulde zwischen Gross- und Kleinsilberhorn, entspringt der mächtige Eisstrom des Giessengletschers. Wie ein breites Band aus blauem Samt fliesst er mitten über den Berg nieder gen Trümmleten. In der untern Hälfte ist ein grosses, schwarzes Loch, umbrandet von Eistürmen, wie es sonst nirgends in einem Gletscher zu finden ist. Man sieht hier durch den dicken Mantel aus Schnee und Eis auf den nackten Felsenleib des Berges. Es ist kein besonders grosser Felszahn, der aus dem Eisstrom emporragt, und niemand weiss, warum der seltsame, schwarze Fleck nicht ständig vom Gletscher überflutet wird.

Ein wilder Gänger aus dem Weiler „unter den Stauden“ zu Lauterbrunnen kletterte einmal allein über die Eiswirrnis hinauf zum grossen Loch. Er behauptete, hier ströme aus dem Bergesinnern warmes Wasser. Keiner kann sagen, ob dem so sei, aber das weiss man seit Jahrhunderten, dass ein grosser Krieg ausbricht, wenn es verschwindet.

So war es auch während der zwei letzten grossen Völkerhändel, dem Siebziger- und dem Weltkrieg. Am Anfang von beiden ging das Loch oben in der Giesse zu und erst am Ende wieder auf.

Deshalb nennen es die Leute das Kriegsloch und sind je und je erschrocken, wenn der hangende Gletscher darüber wuchs.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Kinder, hütet euch vor dem Haaggenmanndli

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Im ganzen Lauterbrunnental treibt das Haaggenmanndli sein Unwesen. Obschon von Gestalt klein und unscheinbar, ist es stark wie ein Baum, hinterlistig und verschlagen. Diesem Kobold, dem ist im wildesten Wildwasser so wohl wie dem Fisch und in der Luft so wohl wie dem Vogel. Jahraus, jahrein ist das Manndli erpicht auf Menschenfleisch — jawolla! Mit ganz besonderer Vorliebe geht es aus auf Kleinkinderfleisch, denn das ist weich und zart und, wenn gebraten, gar knusperig! Von der ersten Taghelle, die von den Gipfeln in den Talgrund sinkt bis zur Abendfinstri, die von den Taltiefen zu den Höhen emporsteigt, ist es ohne Ruh und Rast auf der Lauer. Es ist überall und nirgends. Aber am häufigsten trifft man diesen gefrässigen Passauf an den beiden Ufern der Lütschine vom letzten Haus in Sichellauinen bis hinaus zum Lütschisand am See.

Nicht nur am Wasser, auch an den Rändern der Mürren-, Schiltwald- und Hunnenfluh, ist es emsig auf dem Lugaus.

Das Haaggenmanndli hat einen langen, langen, zähen Eschenstock und vorn dran einen scharf gebogenen Haken wie ein Gyrenschnabel. Kommt ein Kindli zur rauschenden Lütschine und wirft Blümlein, Holz, Tannzapfen oder dergleichen hinein, um zu schauen, wie sie trudeln in den Strudeln, dann langt es mit dem grässlichen Haken hinter einem wasserumbrausten Stein herauf oder unter einer Mutte der Böschung hervor. Der Haken, der greift blitzschnell um ein Bein — ein Ruck — ein Platsch — und das hungrige Haaggenmanndli hat seine Speise! In der Lütschine frisst es die armen Kinderlein roh und gibt die zarten Knöchlein den grossen Fischen.

Aber vom Fluhrand, wo die vielen Beeren und Blumen allzu bunt leuchten und allzu gut duften, da häkelt es die Unvorsichtigen herunter, brät sie ohne Federlesen in den finsteren Balmen hoch in den Flühen, die ja jedermann vom Talgrund aus wohl sehen, aber nie und nimmer erreichen mag. Die kreischenden Dohlen und die schwarzen Raben zanken um die Reste.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Wie die Zwerge aus dem Engital vertrieben wurden

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Weit von allen Leuten fort, hoch über Mürren, liegt, in den Felsenfalten der Berge so gut versteckt, das Engital. Es ist eine kleine, ringsum abgeriegelte, schöne Hochwelt für sich.

Wen sollte es Wunder nehmen, dass in vergangenen Zeiten die Zwerge hier heimisch waren! Oben am Schwarzgrat hausten sie in einer Höhle. Alle Bergleute taten ihnen zulieb, was sie konnten, denn man hatte es ja sattsam erfahren, warum Dörflein und Weidscheunen vor Erdrutsch und Lawinennot je und je verschont geblieben waren. Brach irgendwo an der Bergflanke das Unheil los, so beinelten die Engitalzwerge blitzschnell, wie auf Zauberwort, an die Abbruchstelle, hockten dort auf die obersten sich bewegenden Schnee- oder Erdmassen und wiesen dem brodelnden Durcheinander den Weg neben Scheune und Wohnstatt vorbei.

Ein Mürrner, ein garstiger Racker, lief Sommer für Sommer vor Tau und Tag hoch ob dem Holzwuchs dem letzten Büschel Wildheu nach. Der Bauer wusste vom Hörensagen, dass die Zwerge menschliche Arbeit im geheimen oft besorgen. Er hatte aber die Erdmännchen auf der Latte, denn ihm halfen die kleinen Kröten weder Stich noch Hack. Der einfältige Glinggi (Tolpatsch) wusste nicht, dass sie einem Batzenklemmer nie und nimmer an die Hand gehen.

Sobald die Sonne hoch oben im Engital anschlug, kamen die winzigen Leutchen aus der Höhle, um sich der tauglitzernden Morgenstund zu freuen. Mühelos und wieselflink sprangen sie über die Stotzhalden.

An einem Sommermorgen, der klarer war als der Kristallstein — die Berge standen nur zu sichtig — da sah der Wildheuer, dass die Murbenden (Murmeltiere), diese lustigen Grasaffen, schon früh in ihre Löcher hineingeheuet hatten. Jaa nu — ein Wetterumschlag in ein paar Tagen konnte ihm nichts mehr anhaben. Es schien ihm aber alles widerhaarig zu gehen. Die flaumzarten Morgenwolken im Blauhimmel schmolzen; das war ein untrügliches Zeichen, dass es ander Wetter machen wollte, schon am Tag darauf, und er hatte ja so aussergewöhnlich viel Liegendes auf beiden Talseiten. Am Morgen waren ihm die Engitalleutchen durch den Rest des Stehenden gestrüelt, und das hatte er auf dem Strich. Obschon ihm das, was die Zwerge verdarben, kaum einen Futtertuchbündel voll ausmachte, beschloss er trotzdem, ihnen einen bösen Streich zu spielen.

Am folgenden Morgen war die schlimme Wetterleid; da. Des triefendnassen Gasterentages (Tag, wie gemacht zum Liegen auf dem Heulager) ungeachtet stieg der Heuer bereits in der Frühe durch Nebel und Regen hinauf ins Tal, wälzte grosse Steine vor die Erdmännleinhöhle und hielt die armen Stünggeli so lange gefangen, bis nach Tagen die Sonne wieder die Wolken durchbrach.

Wie sie heraus konnten aus dem finstern, feuchten Loch, luden sie weinend und wehklagend ihr Hab und Gut auf den Rücken und gingen für immer fort, weit über alle Berge.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Das Wütisheer (H. Michel)

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Vom Rotental her hört man oft über die Scheidegg hinweg das Brausen des wütenden Heeres oder das Wütisheer. Am ärgsten treibt es seinen Spuk um die heilige Weihnachtszeit. Mächtige Riesen, Ureinwohner des Landes, Westfriesen genannt, führen den nächtlichen Zug an, dann kommen Zwerge von scheusslicher Gestalt, reitend auf allem möglichen Ungetier und die Geister aller jener Fluchbeladenen, deren Aufenthalt das Rotental und der Rottalgletscher sind. Wenn aber der heulende Sturm das Nahen dieser wilden Jagd verkündet, müssen oben auf der Scheidegg, da wo der Weg nach Gassen und dem Faulhorn führt, diesem Geisterspuk die Tore des Melkhauses geöffnet sein. Wehe dem Hause, wenn dies nicht geschieht!

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936

 

 

Die Lötscherglocke

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

In frühen Zeiten waren Fehden zwischen den Einwohnern zweier Talschaften gang und gäb. Manchmal zogen die einen in Wehr und Waffen zum Nachbarn und nahmen mit, was an sie lief, Vieh oder andere Fahrnis, und gar oft floss viel Blut. Es kam den Lauterbrunnern nicht darauf an, über die hohen Grenzberge hinüber die Walliser heimzusuchen.

Als sie ihre Kirche fertig hatten, da fehlten die Glocken, die sie nicht selber machen konnten, und die am meisten von den raren Batzen gekostet haben würden.

Zu dieser Zeit war die Wetterlücke, der weite Sattel zwischen Breit- und Tschingelhorn, noch nicht vergletschert wie heutzutage.

Die Talleute standen damals schon lange mit den Lötschern in Fehde, und da zogen vieldutzend Kernenfester von der Bernerseite hinüber und schlugen die Lötscher in ihrem Tal ans Schwert. Auf dem Heimweg über das hohe Gebirge nahmen die Lauterbrunner auf Gerüsten zwei Lötscherglocken mit. Sie trugen die beiden hinauf auf die Wetterlücke. Es war schon weit hinten im Herbst; sie glaubten, sie hätten es gewonnen. Da machte aber der Föhn auf einmal, dass sie in engen Schuhen waren. Der orgelte in den Flühen und peitschte ihnen den Wetterschmeiss dermassen um die Ohren, dass sie eine Tregi oben lassen mussten. Die grössere Glocke aber, die brachten sie glücklich ins Tal.

Ein herber Winter stieg mit ihnen nieder in den Grund. In den Ustagen und selbst im Sommer drauf wurde die Wetterlücke nicht mehr schneefrei und ist es seither nie mehr geworden. Die zweite Glocke blieb oben, ist nun tief im Gletschereis vergraben.

Die grössere hängt noch heute im Turm der Talkirche von Lauterbrunnen und heisst die Lötscherglocke. Viel später wollten die Walliser sie im Rückkauf mit Geld aufwägen, aber die Lauterbrunner waren nicht gewillt, auf die von ihren Vorvätern so seltsam erworbene Glocke zu verzichten.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Die gedingte Kuh

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

 

Ein Zwerglein klopfte einst bei einem Bauern an und wollte eine Kuh dingen. Aber weil es so schelmisch lächelte und so blau in die Welt hinausguckte, traute ihm der Bauer nicht ganz, erwog aber zugleich, er könnte leicht sein Glück verschütten, falls er ihm nur kurz und grob die Türe weise.

So kratzte er sich ein wenig in den Haaren, brummte etwas in den Bart, stapfte schwerfällig gegen den Stall, suchte das schlechteste und magerste Kuhlein aus und übergab es dem Zwerge.

Lange, lange schaute er ihm nach.

Das Zwerglein band die Kuh an einen Faden, schritt rüstig gegen das Iffigen, und noch am selbigen Tage wurde es von den Lenkern gesehen, wie es mitten durch senkrechte Flühe seinem magern Kühlein wacker voranging.

Da der Bauer von seiner Kuh lange nichts mehr sah und nichts mehr vernahm, glaubte er sie verloren und tröstete sich damit, die schlechteste ausgelesen zu haben.

Allein wie wurde er freudig überrascht, als man an einem schönen Herbsttage im Dörflein die Nachricht verbreitete, mitten durch senkrechte Flühe habe man vom Iffigen ein Zwerglein herunterkommen sehen — und richtig: am Abend klopfte es bei dem Bauern an.

„Zwischen den Klauen findet ihr den Lohn!“ rief das Zwerglein und verschwand.

Der Bauer beschaute seine alte Kuh von allen Seiten, und mit einem zufriedenen Lächeln wurde er gewahr, wie brav sie gewachsen, wie prächtig nun ihr Bau entwickelt war und wie das Euter voll herunterhing.

Allein, da er untersuchte und zwischen den Klauen nur je ein Gerstenkorn fand, schob er seine Unterlippe nach vorn und zog die Mundwinkel etwas nach unten.

Trotzdem wagte er nicht, sichtlich unzufrieden zu sein, aus Besorgnis, seinen Glücksbecher zu verschütten, und so legte er die Gerstenkörner sorgfältig beiseite.

Und nach geraumer Zeit, als er einmal wieder an seine gedingte Kuh dachte und den Lohn hervorklaubte, strahlte sein volles Gesicht in Glückseligkeit: jedes Gerstenkorn hatte sich in ein Goldstück verwandelt!

 

Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchen.ch

Die Erdmännlein

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

 

Vor grauen Zeiten war auch im Emmental ein liebliches Zwergenvölklein heimisch. Tief unter der Erde, wo keine Sonne leuchtet, kein frischer Wind Kühlung spendet, noch der Mond durch den blauen Nachthimmel seine Bahn zieht, hausten sie in ihren prunkvollen Gemächern und geheimnisvollen Kammern. Auf heimliche Weise bereiteten sie Edelsteine und Diamanten, sonderten sorgfältig die edlen Metalle, wirkten den bunten Teppich der Blumen und bereiteten den himmlischen Tau. König und Königin dieser guten Erdleutchen, die den Frieden über alles liebten, und alles, was schön und gut ist, förderten, trugen Krönlein mit Karfunkeln und Diamanten. Ihre Hausgeräte verfertigten sie aus Edelmetallen und schmückten sie mit Edelsteinen, und alles glänzte wie die Sonne. In lauen Sommernächten kamen sie in ungezählten Scharen aus ihrem Versteck an die Erdoberfläche hervor, dahin, wo die Blumen lieblich duften und die Quelle am reinsten rieselt. Am Waldsaum schlangen sie ihre nächtlichen Reigen und tanzten bis der Hahn krähte.

Im Winter, wenn die Erde weiss und die Luft kalt ist, feierten sie ihre Feste in reinlichen Häusern frommer Menschen, die sie zuvor zum süssen Schlaf anhauchten. Wenn der erste Tagesschimmer die Luft durchzitterte, verschwanden sie lautlos und liessen ihren Segen und reiche Geschenke zum Dank zurück. Ihre besondere Aufgabe war, die guten Menschen vor Unglück zu bewahren und zu beglücken. Die Häuser der Bösen und Gottlosen aber mieden sie. Kein Wunder, wenn da, wo sie nicht die Wache hielten, Unglück über Unglück einkehrte.

 

Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern

 

 

 

Beatus und die Zwerge

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Als Beatus im Oberlande das Evangelium verkündigte, gab es noch Zwerglein, kleine „gesegnete Leutlein“ oder Bergmännchen, die in verborgenen Felsklüften wohnten. Sie zogen sich zurück vom Weltverkehr und galten allgemein als menschenscheu. Den stillen, braven Menschen waren sie gern behülflich in Haus und Feld. Gar manche Arbeit nahmen sie denselben ab. Mit dem heiligen Beatus nun knüpften sie alsbald freundschaftliche Beziehungen an. Sie waren ihm höchst dankbar, dass er den Drachen aus der Höhle vertrieben hatte; denn derselbe war auch ihnen zum Schrecken gewesen. Jetzt durften sie doch wieder ungehindert aus dem Innern des zerklüfteten Berges, wo sie ihre Wohnung hatten, dem Felsenspalt des Beatenbaches folgend, ans Tageslicht treten. Sie sorgten dem Apostel für seinen leiblichen Unterhalt, brachten ihm dürres Holz zur Feuerung, damit er in seiner Höhle vom Rauch nicht allzu übel geplagt werde. Das Wasser holten sie ihm aus dem murmelnden Bach nebenan; wenn das Wetter gar zu unlustig war, so schlüpften sie zu diesem Zweck durch das enge Felsloch im nordwestlichen Winkel seiner Höhle, um tief im Berginnern aus dem felsgebornen Quell zu schöpfen. Von den Flühen herab brachten sie ihm Gemsmilch und feine Käslein. Ja, sie führten ihm selbst Gemsen zu, dass er sie wie zahme Ziegen behandeln konnte. Östlich beim Eingang seiner Klause richtete er in den kleinen Grotten Ziegen- oder Gemsställe ein. Mit aller Sorgfalt hüteten und molken ihm die Zwerglein seine Haustiere. Sie halfen ihm auch unterhalb seiner Höhle allerlei Fruchtbäume pflanzen und pflegen. Die reifen Früchte lasen sie behutsam ab und brachten sie in seine Höhle. Beatus aber brauchte das wenigste für sich selber. Er trug die saftigen Früchte als Labsal hin zu den Kranken. Auch die heilsamen Kräuter aus seinem Gärtlein dienten zur Arznei für allerlei Leidende der Gegend. Die Zwerglein brachten ihm von den hohen Berggipfeln herab gar manches seltene Pflänzchen mit heilwirkender Eigenschaft. Biberklee und Lilien waren in St. Beats Garten besonders reichlich vertreten.

Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. 

 

 

 

Eine Mühle unter dem Eis

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Oben an der Jungfrau, zwischen den breiten Zungen des Giessen- und Guggigletschers, wo jetzt ewiger Schnee, Wildflühe und Geröll sind, war einst ein friedliches Bergdörflein. Am klaren Bach klapperte das Mühlenrad, und wo heute die Eisströme fliessen, tönten Schellen und Treicheln und weideten friedlich die Kühe.

Ein Zwerglein, das Chnopfli, wie es die Leute nannten, war Ziegenhirt und trieb allmorgendlich die glöckelnde Herde in die Höhen, von wo die gemsfarbenen Tiere am Abend sattgefressen und mit vollen Eutern zurückkehrten. Die schoflen Bergbauern aber gaben dem Geisshirten als Entlohnung kaum das nötige Korn zum Lebensunterhalt.

Den Müller, den drückte der Geiz; jeden, der ihm einen vollen Kornsack brachte, betrog er schon zum Wägen, indem er die feine Kunst verstand, mit den Händen die Waage zu seinen Gunsten zu tippen, dass es der Kunde gar nicht inne wurde. Hundert und hundertmal hatte dieser schlaue Müller seine Finger verkauft. Er war ein echter Lügenfechter und gab selten den vollen Mehlertrag zurück.

In einem Herbst kam das Zwerglein unter einer Kornbürde zur Mühle herangekeucht. Der Müller glaubte, das Chnopfli, das könne er noch gründlicher über den Löffel balbieren als alle anderen, und er gab ihm einen Sack voll Mehlstaub zurück.

Das Zwerglein sagte kein Sterbenswort; es stieg mit dem Sack auf der Schulter leichten Fusses hinauf bis auf den Gipfel der damals schneefreien Jungfrau. Dort oben rief es so laut, dass man es unten wohl deutlich vernahm:

„Heut, du geiziger Müller,

Blüht dir der Weizen zum letzten Mal!“

Nun nahm es den Sack voll Mehlstaub in einem jähen Wirbel von der Schulter und schüttelte ihn aus. Da fegte und heulte tagelang ein Schneesturm durch die Lüfte. — Dorf und Mühle wurden eingeschneit.

Heute ist dort öde Eis- und Felsenwüste, kein Gräslein wächst, kein Tierlein findet seine Nahrung. Unter dem Eise aber steht noch immer die Mühle, man hört sie in den Schründen klappern. Allnächtlich füllt der betrügerische Müller Korn- und Mehlsäcke und wägt die richtigen Mengen ab.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Der Bauer, der nie genug werken konnte

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

In Gimmelwald lebte ein Bauer, der war ein recht unvernünftiger Werkteufel. Er arbeitete nicht nur von einem Sternenschein in den andern, sondern auch die halben Nächte hindurch. Wenn er nicht werken konnte bis zu mitternächtlicher Stund, so brach es ihm schier den Schlaf. Einst, als es schon längst Schlafenszeit war, trug er Holz durch einen stockfinsteren Tannenwald. Auf einmal, er war kaum eine Stubenlänge von der Beige fort, da merkte er, dass ihm ein Mann auf den Fersen war; er fühlte, der ist lang, dürr, und es gibt kein Entrinnen. So unvermittelt, mit einem jähen Ruck, riss der Lange ihm die schwere Bürde vom Rücken, dass er auf die Nase fiel. Das Blut gerann ihm in den Adern, er brachte kein Wort hervor, es war, als ob der Schlag ihn auf die Rede getroffen. Der Gimmelwalder hörte noch, wie hinter ihm seine Tannasttregi mit hartem Krach auf die Beige zurückgeworfen wurde. Dann aber hatte er des Hasen Schuhe an, in einem Hui rannte er haarscharf an den brandschwarzen Hochstämmen vorbei, durch das Unterholz hindurch, dass Knöpfe und Nähte am braunen Halbleinrock sprangen — über Stock und Stein heimzu. Der Dürre, Lange schien immer noch nach ihm zu greifen; den jähen Ruck im Rücken spürte er noch nach Wochen.

Der Bauer trug nie mehr zu Nachtzeiten Holz aus dem Wald, aber mähen tat er jetzt, zur Zeit der hellen Nächte, weit über das allerletzte Taglicht hinaus, ln einer Nacht mähte er in seiner Bergweide eifrig an einem Dornbusch vorbei. Wie er vor dem Wetzen mit einer Handvoll Gras sein Werkzeug putzte, da tönte es dumpf aus dem Busch hervor:

„Där Tag ist din,

Die Nacht ist min,

Lass mich unterm Dornbusch in Ruohe sin!“

Er liess die Sense klirrend fallen — und in wunderlichen Sätzen wie eine hüpfende Runkelrübe, hopste er hangab — wieder heimzu. Er beachtete es kaum, dass bei jedem Sprung sich das Wasser aus dem Wetzsteinfass an seinem Gürtel in einem lustigen Plantsch in seine älbbraunen Hosen ergoss.

Der Gimmelwalder sagte keiner Menschenseele eine Silbe von dem, was er erlebt. Seine Dorfgenossen aber verwunderten sich sehr, dass er auf einmal nicht mehr zu Unzeiten am Werken war.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Die güldene Kuhschelle

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Die grössten sechs vom vollen Dutzend Alpen der Talschaft kennzeichnen die Bergbauern:

Suis die höchst’,

Saus die grösst’,

Bletschen die wermst’,

Winteregg die geltst‘,

Sefena die mälchst’,

Wengrenalp die kältst’!

Auf der höchsten, der Sulsalp, fand einst ein Hirt einen kunstreich geformten Schlüssel, der ihm die Türe zu einer früher nie gesehenen Höhle des Berges öffnete. Im Innern blendete ihn der Glanz der kostbarsten Steine, und eine Jungfrau, die seit mehr als hundert Jahren hier ihrer Erlösung geharret, bot ihm drei Gaben zur Auswahl an: Einen Topf voll Geld, eine güldene Kuhschelle oder sich selbst nebst allem Übrigen. Da kam ihm sein Bethli in den Sinn, und er wählte die zweite Gabe. Ergrimmt darüber kündigte ihm die Jungfrau Fluch und Schande an. Unter dem Krachen der Gewölbe ward er von unsichtbarer Macht hinausgeworfen, und draussen auf dem Rasen fand er die güldene Schelle neben sich liegen.

Ruhelos wanderte er in die weite Welt. Da kam er einst zu einer einsamen Hütte, vor welcher ein altes Männchen Holz spaltete. Als ihm von dessen Vater die Nachtherberge gewährt wurde, trat er in Hütte. In dieser traf er ein steinaltes, gekrümmtes Männchen, hinter dem Tische sitzend an. Diesem musste er sein Schicksal erzählen, und als er geendet hatte, erhob sich der Steinalte und sagte zu ihm: „Gastfreundschaft halte ich heilig, das ist dein Glück! Ich beherberge dich diese Nacht, aber morgen in aller Frühe packe dich wieder fort! Dir ward Gelegenheit geboten, der Retter meiner Tochter zu werden, und du hast sie, vielleicht auf ewig, unglücklich gemacht.“

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

 

Der Schafhirt und die Kröte

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

In der Feuerbalm, in einem Fluhsatz des Schwarzmönchs, ist, wie an manchen andern Orten, auch Gold verborgen. Früher kam von Zeit zu Zeit ein Fremder mit scharlachenem, goldbordiertem Rock, gelber Weste mit glitzernden Knöpfen und wasserseidegrünen Hosen herein nach Stechelberg. Weil das nur bergschuhbreite, sich Öfters verlierende Weglein in all den vielen Dutzend Fluhbändern verirrlich und gefahrvoll ist, nahm er immer den Schafhirten mit, der ihn hinauf in die Balm führen musste. Wenn sie oben waren, nahm der merkwürdige, fremde Herr ein Zauberbüchlein aus der Fäckentasche, kratzte in die staubtrockene Erde mit dem Bergstock drei Siegelzeichen und las ein paar Zaubersprüche. Dann kam, gestrichen voll, ein Zuber Gold zum Vorschein. Jetzt füllte der Grüngehöselte alle Taschen.

Einst wollte der Schäfer — ein Schlufi — ärmer als die Kirchenmaus, auch einmal eine Handvoll nehmen, wie man ja wohl begreifen mag. Aber da sprang ihm eine grässlich dicke Kröte auf den Handrücken, quakte jämmerlich und spritzte Gift um sich. So kräftig er auch seine Rechte schüttelte, sie klemmte ihn heftig und gab die Hand nicht eher frei, bis er das gelbe Gold wieder fallen Hess. Hierauf verschwand der Zuber im Nu. Nie mehr sah man den seltsamen Fremden im Tal.

Später soll einmal ein Maulwurf vor der Feuerbalm ein Goldstück aus Tiefen emporgestossen haben, nachgeforscht hat aber niemand, denn der Schafhirt trug seit jenem unglückseligen Griff ein ekligbraunes Krötenmal auf der ganzen Fläche seines rechten Handrückens.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

 

Das Rosswengli

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Zur Alp Suls gehören auch die weiten Sausböden, obwohl sie schon jenseits der Wasserscheide auf einem hohen Fluhsatz über den grünen Gründen der Sausalp gelegen sind. Sie können eben nur von Suls aus bestossen werden. Hier oben heisst eine grosse Felsplatte, nach Saus hin abschüssig, das Rosswengli. Nur die ältesten Sennen der Gegend wissen um die Herkunft des Namens.

Vor einem Menschenalter, als noch der geruhsame Pferdeverkehr über die Passtrassen des Berner Oberlandes in der Blüte stand, da waren einige Fuhrhalter reiche Leute, und sie wetteiferten miteinander, die schönsten Pferde in Form und Farbe zu ziehen. Es kam öfters vor, dass sie die edlen Tiere nicht vor dem fünften Altersjahr in die Stangen stellten, in der Absicht, starke und ausdauernde Züger zu bekommen, die gingen wie die Gemschi.

Sommerüber trieb man die schönen Jungtiere mit dem Rindvieh zu Alp. Aber in Gewitternächten, oder wenn gar Hagel fiel, da hatten die Sennen mit ihnen ihre liebe Not. Sie machten es nicht wie die Kühe, die zur Nachtzeit nie rücken, dem anbrausenden Unwetter die Hinterseite kehren und ruhig auf ihrem Standorte bleiben.

Ob ein Ross ausschlage und einem Hochgewitter standhalte, das weiss man ja erst, wenn die Haut in der Gerbi ist. Gehalte gab es damals keine. Konnten die Tiere in der Nacht, wenn der Himmel grollte, nicht rasch in Värriche getrieben werden, dann rannten sie davon wie zum Rohr hinaus.

Vergebens hatte einst ein Einsichtiger an der Alpeinung von Suls gemahnt, im Pferdeläger auf den Sausböden einen starken Pferch zu errichten.

In einer schwülen Hochsommernacht darauf suchte ein Unwetter Suls heim. Da oben, auf der höchsten Alp in weitem Umkreis, schlug in der pechschwarzen Finsternis ein Donnerschlag in den andern, die Flühe tönten ehern. Es rauschte, rasselte, knatterte, und die Hagelschlossen trommelten auf Stein und Wasen, wie wenn ein Felsenbruch zu Tale ginge.

Was nützte es, dass die Sennen hineinhasteten nach den Sausböden! Sie hörten die Herde im Toben der Elemente ihnen entgegen schnauben und stampfen mit dem Teufel um die Wette. Da halfen weder Grobe noch Güte; die Rosse rannten über die Fluh hinunter nach Saus, Fuchs und Scheck und Schimmel und Rapp, die edlen Tiere der freien Weite! Dumpf hörte man im Tosen die Aufschläge; es waren ihrer gar viele. Noch im Jahr darauf stiess der Adler aus den Höhen nieder, und schlich der Fuchs aus dem Hochwald her nach der Unglücksstätte, und lange Jahrzehnte hindurch bleichten Haufen von Knochen am Fusse vom Rosswengli.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

 

Das Toggeli

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Des alten Majelis Mattysel, (Marielis Matthäus) ein vierschrötiger, vollblütiger Mann, verhirtete im Winter weit draussen am Talend das Schneitweidheu. An die abgelegene Scheune auf dem Fluhrand war ein Hirterstübli angebaut. Wenn die matten Lichter drüben in Isenfluh eines nach dem andern ihr Zwinkern einstellten, dann suchte auch der Majeler sein Gelieger auf. Aber dann kam es so häufig vor, dass ihn hier oben in der wilden Einsamkeit das Toggeli plagte. Kaum war er auf das Lager gesunken, hörte er es durch den ersten Schlummer an der Fensterwand heraufkratzen und krabbeln. Jetzt kam es zum Flügeli herein, über den Bettladen herauf, hockte ihm mitten auf die Brust, drückte und würgte ihn, dass er schier erstickte.

Das Toggeli plagt ja viele schlafende Menschen. Der Mattysel wollte es einmal mit den Händen fassen; da war es grad, als ob er eine Handvoll Schmer erwischt hätte. Es trug ihm aber nichts ab, es zerlief ihm auf der Stell in den Fingern. Nun riegelte der Hirter das Fensterflügeli fest zu. Aber auch das nützte nichts, denn dieser Plagegeist kann sich dünn machen, rinnt wie Flüssiges zum Schlüsselloch und jeder feinsten Ritze herein und macht sich drinnen wieder breit.

Eines Winters quälte das Toggeli des Majelis Mattysel so schlimm, dass es nicht mehr zum Aushalten war. Nach des Tages hartem Werk am Holz streckte er nur mit Bangen seine müden Glieder auf dem Laubsack. Wenn es ihm nächtlicherweile auf der Brust sass, und er schreien oder fluchen wollte, konnte er wohl den Mund aufreissen, aber es kam nicht der leiseste Ton heraus. Da zog er seinen alten Nachbarn zu Rat, und der stieg mit ihm unter der Hunnenfluh durch den Buchwald hinaus nach der Schneitweid. Drinnen im Hirterstübli lag es für den guten Nachbarn klar auf der Hand, warum das Toggeli oft auf dem Majeler sass. Er sagte zu ihm: „Jää — du armer Tropf — du musst dein Guutschi (Bett) alsbald anders drehen. In einer Scheune vorn auf einer Fluh kehrt man nie und nimmer die Fussete zu Berg und das Kopfend zu Tal. Lieg mit den Füssen nach unten, beileib dem Wasserlauf entsprechend!“

Er tat, wie ihm geheissen und legte fürsorglich noch jeden Abend ein schnittiges Beil auf die Bettdecke. Dann kam das Toggeli nicht mehr zum einsamen Schläfer in das Schneitweidstübli.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

 

Das weisse Kronschlängli

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Am Bachlehn ob Gimmelwald kam einst ein armer Bauer seit langem um den Taggewinn von einer Kuh. Setzte er sich zur morgendlichen oder abendlichen Melkzeit auf seinem Einbein unter sie, so gab sie keinen Tropfen Milch. So sehr er das Tier auch hätschelte und tätschelte und die Zitzen beim Vormelken mit Schmer bestrich, er brachte weder Tran noch Zyssa (Strahl) aus ihr. Andern erging es auch so, und doch war das Tier kerngesund und glatt wie ein Schär.

Darauf haben einige Gimmelwaldbauern Tag und Nacht gelusset, wer da melken gehe. Aber da ging keiner weder zu noch fort. Hernach hatte sich der Bauer einmal schon zu Beginn der Schlafenszeit auf die Barnilatten gesetzt. So um Mitti Nacht herum hörte er im Stall ein feines Zischen; er steckte Licht an, und dann war es richtig da, das weisse Schlängli mit dem guldigen Krönli uff. Von dem glimmte ein mattblauer Glanz wie ein Leuchtguog. (Leuchtkäfer) Unter der Kuh bäumelte es auf, wippte unruhig hin und her und hängte sich ihr gierig ans Euter. Verscheuchen liess es sich nicht, und als er versuchte, es mit einem Stecken ums Leben zu bringen, da zischte es züngelnd gegen ihn und bannte ihn mit giftigem, bösem Blick. Wie stechende Wehtat legte ihm ein schaurigkalter Schreck die Glieder lahm, und er wusste auf einmal, dass er das falsche Trom ergriffen und hier Menschenmacht völlig nichts verschlug.

Auf der Nachbarn Rat zügelte er mit der Kuh für ein paar Tage in ein abgelegenes, nicht mehr nutzbares, verwettertes Gehalt. Rasch hatte sich die der Milch aufsetzige Kronschlange an den neuen Stall gewöhnt und sog wieder Nacht für Nacht das Euter leer. Unversehens trieb an einem Abend das Bäuerlein die Kuh wieder in ihren frühem Stall.

In der Nacht darauf lusseten die Gimmelwalder der weissen Kronschlange auf. Sobald sie das Zischen im Stall drinnen vermerkten, schlossen sie rasch Fellbalkenladli und Zuglöcher und zündeten das wackelige Scheuerlein an allen vier Ecken an. An den wurmstichigen, altersmürben Rundbalken prasselte der Flackerschein im Nu empor. Grausig färbte bald die Feuerröti die Busenflühe. In stiebendem Funkenregen knackten die Dachrafen ein, und als die First in einer sprühenden Garbe krachend fiel, da war es dann gekommen, das weisse Schlängli mit dem guldigen Krönli uff. Alle die Bauern haben es gesehen zur höchsten Stichflamme in den brandroten Nachthimmel ausfahren und in Asche zerstieben.

Aber als der Bauer am andern Morgen in den Stall zur Kuh kam, die die weisse Kronschlange so lange genähret, da hatte die gläserne Augen, lag steif und kalt.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

 

Das Gryni

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Auf der Hunnenfluh, die wie des Herrgotts Bollwerk die rechte Talseite nach aussen abschliesst, hört man im Frühling und im Herbst, wenn es ander Wetter machen will, und die ersten heissen Föhnstösse die Tannenwipfel auf dem Fluhrand wie Weidenruten biegen, in Ausserwengen ein Klagen und Schluchzen. Das ist das Gryni.

In einem Jahrhundert, das längst verronnen, wohnte an der Spendägerten in Wengen ein Mann mit seiner Frau. Ihr einfaches Leben floss in Eintracht und Arbeit dahin. Als, nach Jahren erst, sie auf Jugend hoffen durften, war die Vorfreude gross. Eines Tages stand ein Kind auch wirklich an, aber mit ihm brach Ungemach über die Leute herein. Das Kleine hatte mitten im Gesicht ein rostrotes Muttermal, grösser als die Fläche einer Hand.

Das Unglück werkte die junge Frau lange Zeit ins Bett, es brach ihr den Schlaf, und sie hintersinnete sich schier. Sie schämte sich des Kindes, trug es nicht über den Tauf und tat keinen Schritt mehr unter die Leute. Ganz langsam — helf ihr Gott im Himmel oben — reifte in ihr der Gedanke an ungute Tat.

Eines Sonntagmorgens, als drunten im Grund die beiden Glocken gar feierlich die Talleute zur Predigt riefen, war ihr Mann schon längst auf dem Kilchweg. Sie jetzt auf und davon, mit dem armen Kind in der Schürze, unterhalb des Dorfes über Rohrflüh und Brunni hinaus nach der Hunnenfluh. Hier leerte sie es in die schauerliche Tiefe, und unten nahmen es die weitästigen Buchenkronen des grossen Schmelziwaldes auf.

Als der Mann vom Tal heraufkam und nach dem Kind fragte, da focht sie mit Lügen, es sei ihr abhanden gekommen. So lange man auch suchte, auf Fluhsätzen, in Gräben und Wäldern, das Kindlein blieb verschollen. Es kam niemand in den Sinn, im Talgrund und am Talend draussen zu suchen.

Angst und Kümmernis aber brachen der Frau Herz, und eines Abends, der liebe Gott sei ihrer Seele gnädig, hing sie im Ägertenhaus am Strick.

Damit es dort nicht ungeheurig werde, und die Arme an ihre Ruhe komme, nahm man, altem Brauch gemäss, die Leiche nicht über die Türschwelle, sondern oben zum Schindeldach hinaus. Dann vergrub man sie, unweit vom Haus, im Spendägertenloch.

Alle kluge Vorsehung aber war umsonst, das Gryni kam aus dem Loch herauf und strich zu gewissen Zeiten an den Ort der bösen Tat. Auf dem Rossibort streifte es stets eine Hausecke. Es war in der Nähe zu hören wie ein in Angst dahineilender, atemloser Mensch. Wenn es aber weiter talaus kam, hauelte es laut auf.

Noch heute hört man dann und wann am Rand der Hunnenfluh, wenn im Sturm die Wipfel ächzen, das Spendägertengryni dem toten Kinde nach in den Abgrund hinunterweinen.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936

 

Der glühende Marchstein

In einem sametbraun gebrannten Häuslein auf der Wangfuhre in Wengen wohnte einst ein altes Ehepaar. Die Frau besorgte die Haushaltung und wob fleissig Leinen für Bettzeug und Wäsche. Der Mann betreute Grund und Boden wie den kleinen Viehstand mit Liebe und Umsicht. Sie lebten in Glück und Zufriedenheit, und mit den Nachbarn auf dem Bühl hatten sie nie ein Widerwort. Zur Zeit der langen Nächte, wenn der winterliche Schneegux um die Ecken pfiff, kamen die vom Bühl oft herunter zum Abendsitz. Die Frauen spannen, und die Männer lagen dem Tubaken ob, das auch bei ihnen aus jungem Hochmut zu alter Gewohnheit geworden.

Eines Abends öffnete der von der Wangfuhre das Stubenfenster, um seine Pfeife auszuklopfen. Auf einmal sah er oben am Hag einen Mann mit einem glühenden Marchstein auf einer Achsel. Er erkannte ihn deutlich; es war der Bauer, von dem er seinerzeit Häuslein und Fuhre erstanden, und der schon vor Jahr und Tag drunten im Grund beim Kirchlein sechs Fuss tief lag. Der alte Wangfuhrner vergass, sein Pfeiflein auszuklopfen und wurde so weiss wie ein Tischlaken, als er hörte, wie der ihm zurief, er solle heraus und mit ihm kommen. Der alte Mann aber fürchtete sich schier, zu einem Toten hinauszugehen. Dann fragte er erst den seltsamen Steinträger, was das alles zu bedeuten habe. Nun bekam er vom Geist den Bescheid, dass er bei Lebzeiten falsch gemarchet habe. Jetzt bat dieser den Bauern, er solle um des lieben Herrgotts und seiner eigenen Seligkeit willen mit ihm kommen und ihm helfen, den Marchstein setzen. Weil der Wangfuhrner sich noch immer fürchtete, rief der Unselige ihm zu, er solle nur guten Mutes kommen, es werde ihm auch nicht ein Haar gekrümmt. Er müsse ein Lichtlein nehmen, sich kleiden, wie es sich für einen Mann geziemt, der eine ernste Handlung vorzunehmen gedenke. Beileibe aber dürfe er ihm nicht das letzte Wort lassen, wenn sie von einander.

Der alte Bauer liess die verdutzten Nachbarn und seine Frau, die von allem nichts gemerkt hatten, in der Stube sitzen und ging wortlos hinaus. Oben am Hag fragte ihn der Steinträger: „Wo soll ich ihn setzen?“ — „Setz ihn da, wo er hingehört, an den richtigen Ort!“ Darauf liess er die brennende Last fallen, eine halbe Elle diesseits des Hages, und sie setzten ihn miteinander. Dann suchten sie noch einen andern Stein, schlugen ihn in zwei ungefähr gleich grosse Teile, so, dass man sehen konnte, dass sie ein Stück gewesen und setzten diese als untrügliche Gültigkeitszeugen beidseitig neben den Marchstein.

Wie das ernste Werk getan, sagte der Verstorbene, jetzt sei er erlöst, und ein Dutzend Vergeltsgott und Dankheigist sprangen über seine Lippen. Damit fuhr er mit einem Male durch die Luft aus gen Himmel und dankte in einem fort. Der Wangfuhrenbauer entgegnete ihm: „Dafür brauchst du nicht zu danken.“ Noch von weit, weit aus der Luft oben klangen die Worte an sein Ohr, aber immer ferner und schwächer. Er liess ihm nicht das letzte Wort und rief ihm in den nachtschwarzen Himmel hinauf nach: „Dafür brauchst du nicht zu danken, dafür brauchst du nicht zu danken!“ Als er wieder in die Stube trat, verabschiedeten sich die Nachbarn. Der Wangfuhrner aber setzte sich fröstelnd in die Ofenecke und wagte es nicht, sich zu Bett zu legen, denn es schien ihm, er höre den Erlösten noch in einem fort danken hoch oben aus den Lüften, und er bleibe ihm das letzte Wort schuldig. Bis gegen Morgen hin brummelte er schläfrig aus der Ofenecke: „Dafür brauchst du nicht zu danken, dafür brauchst du nicht zu danken!“

Er hatte aber die Mahnung, sich zu kleiden, wie es sich für einen Mann gezieme, der eine ernste Handlung vorzunehmen gedenke, nicht beachtet, war gedankenlos, gegen guten Brauch verstossend in der Zittelkappe hinausgegangen. Seither ertrug er nur noch diese Kopfbedeckung.

Der Bauer an der Wangfuhre und der auf dem Bühl, die taten einander wegen der verschobenen March nichts zuwider und zuleid. Sie versetzten den Hag an den richtigen Ort und lebten weiter in Frieden und Eintracht.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

 

Das geschlachtete Kalb

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Einem Bauer, der einen Stall voll Vieh besaß, nahmen die Zwerge ein schönes Kalb und schlachteten es. Der Bauer kam zufällig dazu, war darüber empört und machte ihnen Vorwürfe, warum sie ihm das schöne Kalb ergriffen hätten, und nicht ein anderes Stück. Diese suchten den Erbitterten zu beschwichtigen, indem sie ihn ermahnten nicht zu zürnen, und ihm vom Fleisch des schönen Kalbes zu essen gaben.

Betrübt legte er sich am Abend zu Bette. Am andern Morgen ging er in den Stall um zu füttern; da stand zu seinem großen Erstaunen das schöne Kalb gesund und wohl an seinem gewohnten Platz, nur das Stück Fleisch, das er gegessen hatte, fehlte am Körper.

Theodor Vernaleken: Alpensagen – Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858

.

 

 

Die wohltätigen Zwerge

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Auf dem Epsacher Feld befindet sich ein großer Stein, unter dem vor Zeiten zwei Zwerge ihre Wohnung gehabt haben sollen. Diese Zwerge waren gar freundliche Leutlein, die öfters zu den Leuten im Dorfe gingen und an ihren Gesprächen und Abendsitzen Teil nahmen; sobald aber einer der anwesenden schwur oder fluchte, verließen sie augenblicklich die Gesellschaft wieder; denn sie hatten einen Abscheu vor allen Lastern. Wenn die Bauern im Sommer ihr Korn abschnitten, brachten die Zwerge ihnen in einem weißen Körblein oft allerlei essbare Sachen nebst kleinen silbernen Löffeln und Gabeln. Sobald die Leute gegessen hatten, packten die Zwerge alles wieder zusammen und trugen es in ihre Wohnung zurück. Einmal ließ sich ein Bauer von seiner Habsucht verleiten, eins der Löfflein zurückzubehalten. Als die Zwerge dieses gewahr wurden, verließen sie sofort die Gegend und wurden von dem Tage an nicht mehr gesehen.

Theodor Vernaleken: Alpensagen – Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858

 

 

Die Zwergenamme

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Oben in den Flühen ist die Zwergmutter in Kindesnöten. Flugs eilt der Zwerg ins Tal, die Amme zu rufen. Willig geht diese ihm nach, achtet des weiten Weges und der bösen Steine nicht, die drauf liegen. Oben in der Felsenstube legt sie dem Zwergweiblein ein feines Zwergenkindlein in die Wiege. „Ich will dir’s lohnen“, sagt der Zwerg, nimmt einen Haufen Kohlen vom Herde und schüttet dieselben der Talfrau in die Schürze. Mit einem Vergeltsgott geht diese von dannen, gibt aber auf die Kohlen, deren sie daheim doch genug hat, wenig acht. Sie lässt auch ab und zu davon auf den Boden fallen, ohne sich darnach zu bücken. Warnend ruft der wohlmeinende Geber ihr nach:

„Je mehr du zatt’st

Je minder du hast!“

Die Warnung wird trotzdem wenig beachtet. Zu Hause angekommen, wirft die Talfrau mürrisch und verdriesslich die Kohlen auf den Tisch: „Da seht meinen Lohn!“ Wie reisst sie dabei aber die Augen auf, als es auf dem Tische schimmert und flimmert! Die schwarzen Kohlen sind lauter glänzende Goldstücke geworden. Jetzt wird ihr die Warnung verständlich. Rasch läuft sie zurück, zu sammeln, was zuvor so geringschätzig verzattet war. Aber es fanden sich keine Kohlen mehr.

Ähnliches geschah einst auch einer Frau von Meiringen. Sie ging im Schlosswald an der Burg Resti vorbei. Auf dem Rücken trug sie einen Sack Erbsen. Da kam der Vater der Zwergenfamilie Gutsin des Weges daher. Der rief der Frau, als er wahrnahm dass ihr Sack ein kleines Loch hatte, durch welches die Erbsen zu Boden rannen:

„Je mehr du zatterst

Je minder du hast!“

Sie aber verstand seine Redeweise nicht und ging achtlos fürbass. Als sie jedoch heimkam, merkte sie, was das alte Väterchen gewollt. Der Sack aber war leer und die Erbsen zum grössten Teil verloren. Was aber noch im Sack verblieben war, das hatte sich zu Goldkörnern verwandelt. Da lief sie schnell hinaus auf den Weg um das achtlos Zerstreute wiederzufinden Ihre Mühe aber war fruchtlos, denn nicht eine einzige Erbse fand sich mehr.

Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. 

 

 

Die Rottalherren

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Da und dort im Unterland ertönt, gewöhnlich zur Hochsommer- und Erntezeit, die Luft in seltsamem Tosen und Knallen. Oft vernimmt man es auch gegen den Spätherbst hin.

Zu Bleienbach im obern Aargau hört man ein Jagen und Sausen wie von einem grossen Reiterzuge, und nicht der wilde Jäger sei Ursache davon, sondern die Herren von Rotental.

Bis gen Murten und Solothurn zu meinen etliche aus dem Volk: „Die Rottalherren exerzieren, es gibt ander Wetter.“

Das Rottal war ehedem eine wunderschöne Blümelisalp hoch in einem Kessel an der Südwestseite des Jungfrauberges, von wo ein Pass ins Wallis führte. Glücklicher wäre das Los der Bewohner dieses Teiles des Landes gewesen, hätte nicht zu jener Zeit die Willkür grausamer Herren auf ihnen gelastet. Allein niemand war seines Eigentums sicher, und selbst die Frauen und Jungfrauen des Tales entgingen nicht den Verfolgungen dieser Wütriche. Ihr gottloses Treiben konnte jedoch nicht ungestraft bleiben. Der Zorn des Himmels erwachte. Als einstmals einer von ihnen, der böseste von allen, ein junges Hirtenmädchen verfolgte,

kam plötzlich in jähem Sprunge ein grosser schwarzer Bock, welcher noch niemals auf der Alp erblickt worden war, der fliehenden Jungfrau zu Hilfe. Mit furchtbarem Stosse schleuderte er den Verfolger über eine steile Felswand, hinab in den Abgrund. Gleichzeitig aber erzitterten ringsum die Berge, und unter herabrollenden Felsstücken und Eismassen verwandelte sich das einst so blühende und fruchtbare Tal in eine traurige Gletschereinöde, die es noch heute ist. Von jenem schrecklichen Augenblicke an wurde das Tal nur noch selten von Menschen betreten.

Zu ewiger Busse verdammt ziehen die, die den Zorn des Himmels über die Täler brachten, noch heute, ihr Schicksal in dumpfen, eigentümlichen Tönen beklagend, durchs Land. Man hört bald die Trommel schlagen, bald die unseligen Geister auf entsetzliche Weise heulen.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Ein mageres, hageres Chudermänndi zieht die March

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

In Wengen war seinerzeit ein grosses, schönes Stück Land. Im Vorfrühling, wenn auf allen Wiesenhängen weit und breit noch das bedrückende Fahlgelb lag, spross hier schon freudig das erste Grün, und dieses schoss bald in das saftigste Kraut, des Bauers Augenweide. Mitten hindurch floss in lustigem Lauf ein silberhelles Bächlein. Es führte das allerbeste Trinkwasser der Gegend, und selbst in der grössten Winterhärte sah man an seinem Rande nie Eis. Im heissesten Sommer, wenn man fürchtete, die unbarmherzige Sonne scheine Dürre und Hunger ins Land, spendete es in stets gleicher Fülle seine kühle Gabe. Das Riebibächli trieb eine Sagemühle und rieb den Menschen Roggen und Gerste. Zwei Bauern stiessen mit ihrem fetten Grund und Boden daran und lebten in Streit und Hader. Jeder war des Sinnes, das Bächlein gehöre ihm, und da sie beide gähes Pulver hatten, entbanden sie oft den Teufel und taten einander Uebles an. Nach Jahren aber wurden sie doch rätig, ein altes, hageres Chudermänndi, das dann und wann in Wengen erschien, als Richter anzusprechen. Niemand kannte es näher, aber auch niemand konnte ihm üble Rede nachwerfen, und es hiess, es wisse und verstehe mehr als andere.

Eines schönen Tages erschien es; die beiden Bauern brachten ihm ihr Anliegen vor und baten es um des Herrgotts Willen, es solle ihnen doch marchen.

Das Männdi darauf: „Ja, ihr streitsüchtigen Manna, das ist jetzt noch keine Notsach, an jedem gewöhnlichen Tag kann ich das nicht tun, ich komme dann in Frühjahr wieder, zu einer ganz bestimmten Zeit.“

Als der Rottalföhn wieder einmal talaus fuhr, Schnee und Eis in seinem heissen Atem an Fluh und Hang zergingen, da waren beide wartend. Er kam und hatte nichts bei sich als ein haselnes Stecklein. Mit dem fuhr er dreimal durch das Wasser des Riebibächleins und rief mit einer hohen Stimme: „Euch, ihr Sackerhagel, ihr Kratzbürsten, euch will ich jetzt marchen, dass für alle Zeiten gemarchet ist! Ihr habt lange genug einander zuleid gelebt! Morgen, noch bevor der Tag anschlägt, wird die March gezogen sein.“

Und dann auf und fort, wie ein erzürnter Bettler, kein Mensch im Tal hat das Männdi je wieder gesehen.

Als am andern Morgen die Wind- und Wasserkräfte ausgetobt hatten, und die beiden Bauern am Riebibächli Wasser holen wollten —- pootz — Teufelwetter! — da war auf alle Zeiten gemarchet. Aus dem Bächlein war ein Bach geworden und der floss in einem vieldutzend Fuss tiefen und breiten Bett. Er heisst jetzt der Chnewgraben und trennt den Weiler Schiltwald vom übrigen Wengen.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Der Rosenbach

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Fern, irgendwo auf der andern Seite der hohen Lauterbrunner Grenzberge, liegt im Wallis ein abgelegenes Bergseelein. Niemand ergründete je, wo es seinen Abfluss hatte.

Im Lauterbrunnental, innerhalb der tosenden Trümmelbachfälle, etliche Dutzend Fuss über der Talsohle, quillt schneeweiss aus der senkrechten Fluh, vom Beginn der Rosenblust bis Weinmonat ein ansehnlicher Bach; dann versiegt er wie auf Zauberwort.

Ein Bursche im Wallis brachte einst seiner Auserwählten, die in der Nähe des Seeleins der Pflege des Viehs oblag, aus dem Rhonetal herauf einen Strauss Rosen. Als beide am Ufer des düstern Bergwassers sassen, kamen sie überein, ein paar Rosen ins Wasser zu werfen, um zu schauen, wo sie wohl verschwinden würden. Bald entschwanden die Blumen in der dunklen Tiefe, kamen aber im Wallis nirgends zum Vorschein.

Wie erstaunten die Lauterbrunner, als der geheimnisvolle Bach aus dem Bergesinnern Rosen schwemmte! Genau neun Tage lang sollen die Blumen durch die Leiber der Berge gewandert sein, und es ist wohl verständlich, dass die Talleute den seltsamen, bisher namenlosen Wasserlauf Rosenbach nannten.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

 

 

Das Alphorn

Land: Schweiz

Region:

Kategorie: Sage

Sonst, wenn der Frühling mit Schalmei und Blumenkorb durch Berg und Tal wanderte und die frohen Sennen ihre Herden wieder zur Alp getrieben hatten, vernahm man fast jeden Morgen von der Kaltbrunnen-Alp her, im Haslital, die Töne zweier Alphörner, die sich in melodischer Zwiesprache Red- und Antwort gaben. Längst sind sie verstummt und nur die Flühen sollen zuweilen ein geisterhaftes Schluchzen und Weinen von sich geben.

Auf jener Alp hirtete nämlich in alten Zeiten ein wunderschöner Jüngling seine Herde. Die Leute rühmten ihm nach, dass er ein Instrument von mächtigem Klange erfunden habe, mit welchem er das schönste Echo am fernen Fels erwecken könne. Das erste dieser Hörner, das seine geschickte Hand verfertigt hatte, schenkte er seiner Geliebten, einer Sennerin, welche nicht sehr fern von ihm, auf der Reichenbachalp den Sommer zubrachte.

Nicht lange, und das Mädchen hatte dem Jüngling die Kunst des Blasens vollkommen abgelernt.

Früh morgens, wenn die Sonne mit ihren Purpurstrahlen die Firnen vergoldete, folgte der Hirt seinen Kühen auf die Weide setzte sich ins Grüne, oder lehnte sich an einen Felsen und blies ein fröhlich Stücklein auf seinem Alphorne. Bald erschien dann auf der Alp gegenüber das Mägdlein, ihm Antwort zu geben, wie er’s ihr gelehrt. Bald bliesen sie selbander eine zweistimmige Melodie, bald hörte man wieder nur leise den Einzelnen. So unterhielten sich die beiden Liebenden manche glückliche Stunde miteinander, ihre Herzen verbanden sich noch inniger und im Herbst, ehe sie zu Tal zogen, ein jedes nach einer andern Bergseite, gaben sie sich das Gelübde, einander übers Jahr ganz anzugehören.

Mit dem Frühling kam auch der Jungsenn wieder auf Kaltbrunnenalp Da blies er freudig einen hoffnungsvollen Lenzgruss hinüber. Aber keine Stimme, kein Laut gab ihm drüben Antwort. Da blies er lauter, stürmischer, doch totenstill blieb s auf der Nachbaralp. Endlich aber, als seine Weisen immer sehnsüchtiger anschwollen, kam eine Senne herauf und sagte: „Blas nimmer, du erweckst sie nicht, die drunten im Totenhofe schläft.“

Da wurde der Hirt sehr traurig, ergriff sein Horn und schlug`s an einen Felsen, dass es in Stücke zerschellte. Dann schritt er von der Alp hinweg. Niemand weiss, wohin er gegangen und wie er geendet hat.

Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. 

 

Klassische Sage, kommentiert und erläutert von Martin Niedermann, Botschafter Sagenmuseum

Das Höll-Hoopi

Das Höll-Hoopi

Das Höll-Hoopi ist den Menschen wohl gesinnt. Es gibt zuzeiten denen, die darauf achten, Schirm und Hut vor Feuer und Wasser, Steinschlag, Unwetter und Lauigfahr. Vor Höllenspuk und allen grossen Uebeln, die den Leuten drohen, tut es von einer Balm oder vom Fluhrand herunter hoopen, so dass, wer will und mag, sich vorsehen kann.

Besonders auf der Sefinenalp, da hat das Höll-Hoopi unsern Vätern und Vorvätern so manchen guten Fingerzeig gegeben!

Eines Sommers trieben die Sennen, obwohl sie sich sonst vertrugen wie zwei Finger an einer Hand, gegenseitig öfters Neckerei, Spass und Kurzweil. Sobald die Nacht auf den Hütten lag, pochten sie einander an die Türen. Wenn der Genarrte heraus kam, sah er völlig nichts und hörte nur ‚das gewohnte Rauschen der Sefilütschine.

In einer stockfinstern Herbstnacht, kurz vor der Alpabfahrt, klopfte es dreimal hart an eine Hüttentüre in Sefinen. Der Hirt vermeinte, er solle wieder ans Narrenseil und fluchte: „Das sollen doch der Teufel und das Höll-Hoopi nehmen, meine Ruh will ich jetzt einmal haben! Ich komm dir nicht hinaus, du Cheib!“

Da sah er zwischen den Ritzen der Rundbalken hindurch ein seltsam fahles Erbleichen über die Alp huschen. Er warf den Kopf nicht mehr in den Nacken, trat eilig vor die Hütte und nahm wohl deutlich wahr, dass das kein Wetterleuchten sei. Jetzt sah er ein taubweisses Männlein mit einem grellblauen Licht behende über eine hohe Balm beineln. Es trieb Vieh und rief, dass es schaurig in allen Wänden widerhallte: „Hoo hoop! — Hoo hoop! — Hoo hoop!“

Die Haare standen dem Sefisennen zu Berge, und ein eiskalter Schweiss lief ihm schauerweise über den Rücken. Da gab es nichts zu grübeln und deuten, das war das Höll-Hoopi; er und der Küher und der Hüterbub hatten es gesehen und gehört mit Eid und Gewissen. Der erfahrene Senn, der wusste, was er zu tun hatte. Er liess das Vieh zusammentreiben, machte die Stall- und Hüttengeräte bereit und befahl den Alpabzug, auf der Stell! Das war wäger eine Pflicht mitten in der rabenschwarzen Nacht. Die andern Aelper schlugen seine Mahnungen in den Wind und meinten, er sei, denk wohl, in der verkehrten Welt.

Aber noch in der gleichen Nacht begann es auf der hohen Alp zu schneien, wie es selbst die Aeltesten nie erlebt hatten; stunden- und stundenlang fielen lautlos, ohne dass ein Lüftlein wehte, Flocken wie Fausthandschuhe. Die Senntümer, die oben geblieben waren, wurden eingeschneit bis an die Dachrafen, und es war bald kein Tabaksäckel voll Heu mehr zu verhirten. Alles hatte arg Lauisorg, und die Talleute mussten, was mit der Schaufel schoren konnte, den Alpweg lösen.

Erst nach Tagen konnte man abzügeln, und etliche schöne Haupt, Kühe und Rinder, waren elend eingegangen.

 

Persönliche Erlebnisse an der Sage

Mir gefällt die Geschichte vom Höll-Hoopi. Sie ist eine der wenigen, in welcher eine den Menschen und Tieren gutmeinendes Wesen vorkommt. Michel schreibt sogar, das Höll Hoopi sei gut gegen all diejenigen, welche die elementare Welt der Berge achten und mit ihr einen respektvollen Umgang suchen. Feuer, Wasser, Steinschlag, Unwetter, Lawinen waren und sind reale Bedrohungen. Die Sage scheint mir in ihrem Inhalt sehr Zeitgemäss zu sein. Die Angst vor den Auswüchsen der Naturzerstörung, der Gefahr, dass Klima und Welt zugrunde gehen, ist gross. Gerade so gross ist die Aufregung darüber, dass sich Menschen für dieses Klima engagieren und mit mehr oder weniger glücklichen Protesten dafür stark machen wollen.
Die Sage setzt ein Wesen voraus, welches in dieses Klima irgendwie einverwoben ist. Es steuert die Natur-Gefahren nicht, die bleiben in der Sage stetig und können nicht geändert werden. Aber die Art, wie die Menschen mit diesen Klimagefahren umgehen, wird beschrieben. Dem Älper in der Sage (und wahrscheinlich den meisten Talbewohnern) war dieser Geist eine reale Grösse, welche es zu berücksichtigen gilt, genauso wie den Teufel. «Das sollen doch der Teufel und das Höll-Hoopi nehmen…» Es ist nicht deutlich, ob das Höll- Hoopi wie der Teufel als destruktive Kraft angesprochen wird. Das wäre in der aktuellen Klima-Debatte eine aktuelle Aussage. Frei Übersetzt:  Das Klima ist verteufelt oder das Klima geht zum Teufel. Doch das Höll-Hoopi hat nichts mit dem Teufel am Hut, so wenig wie dieser mit dem Weihwasser. «Höll» kommt hier von laut rufen, so wie es auch in «Holeijen» oder im Ausruf «Ho, hoooo» wie er beim Vehtreiben zu hören ist. Das Höll-Hoopi ist eben ein wohlmeinenderer Geist, einer, welcher Menschen auch vor der Hölle schützen kann. Das Höll-Hoopi wäre in diesen heutigen, berechtigten Klima-Sorgen eine sichere Instanz, welche uns vor dem «verteufeln» und den Gefahren schützen kann! Die Gefahren sind real, sagt die Sage, doch das Hoopi auch. Aber nicht für alle, denn « Es gibt zuzeiten denen, die darauf achten, Schirm und Hut…» steht bei Michel, und das scheint mir doch das Wesentliche zu sein.
Achtsam werden auf die Elemente der Natur, dem Klima und den Tieren. Wer achtsam ist, so sagt die Sage, wird den gutmeinenden Naturgeist erleben. Erst klopfend in der Nacht, dann gespenstisch sichtbar, dann rufend und helfend. Aber dann muss der Älpler alleine handeln.

Vergleiche

Die Sagenwelt im Oberland kennt recht viele Geschichten, in welchen Naturgeister mit Klimaphänomenen in Zusammenhang gebracht werden. Auch das «Hauri» hat bei Walter Manzi in den Oberländersagen einen Platz am Abhang des Hohgant. Viele Sagensammlungen der Alpen beschreiben das Wirken des guten Wettergeistes. Auch bei Kohlrusch, dem ersten Sagensammler, welche die Geschichten nach Regionen ordnete, steht das Hauri als guter Geist im Berner Oberland beschrieben. Es ist im Fühjahr bis im Herbst rund um die Alpen anzutreffen. Meist als Luft- oder Windgeist, meist aber als athmospärischer Wesen, welchem Wintereinbruch, Gewitter, Wetterumsturz, Lawinen stets zuwider sind.  Es ist den Älplern so wohlgesonnen, wie es das Höll Hoopi im Lauterbrunnental ist.

Eine Beschreibung der Alpgeister Hauri oder Höll-Hoop findet sich in W.Menzis vergriffenem Büchlein «Sagen aus dem Berner Oberland» :

… Ein freundlicher Geist namens Hauri bewohnt die majestätischen Alpen und ähnelt in seinem Wirken den Erdmännchen, jedoch mit größerer Macht. Er liebt die Menschen innig und schirmt sie vor den boshaften Geistern des Gebirges. Im Frühling durchstreift er die Wiesen und lockt die ersten Blumen aus dem erwachenden Boden hervor. Den Sennern bereitet er fröhliche Momente bei ihrer Ankunft auf der Alp und sorgt für Nahrung für die Herde. Das Vieh, das auf die Alm getrieben wird, empfängt ihn mit freudigem Hüpfen, und gelegentlich kitzelt er die Tiere sogar.

Den Hirten nimmt er die schweren Bürden ab und verströmt einen zarten Duft über die Berge, um den blendenden Glanz der ungewohnten Umgebung zu mildern. Dann führt er die Kühe zu den besten Weideplätzen und beschützt sie vor schädlichen Pflanzen.
Sein Ruf ist beängstigend: Als ob Erde und Himmel Schreie aussenden, erfüllen heulendes Gejammer die Täler, die Luft vibriert vor Anspannung. Wie ein blitzender Lichtstrahl fliegt Hauri über den Ort des drohenden Unheils. Ihm unmittelbar folgt das Grauen der Zerstörung. Lawinen stürzen in gewaltigen Massen von den Gipfeln herab, und die bösen Geister stürzen sich mit wildem Gebrüll auf die Verwüstung…

Mystische Spuren

Erklärung der Figur „Hoopi,“ auch bekannt als „Hauri“ oder „Huri“ .
Unbestreitbar zählt „Hauri“ zu den Legenden, deren Ursprung auf bestimmte Naturphänomene zurückgeht. Die Verkörperung dieser Phänomene nach alter heidnischer Denkweise übt interessanterweise auch heute noch einen größeren Reiz aus als die nüchterne Enthüllung ihrer wissenschaftlichen Hintergründe. Hauri oder Höll-Hoopi, das die Blumen und Blüten zum Vorschein bringt und Mensch sowie Tier mit neuer Energie belebt, symbolisieren die warme Jahreszeit – den Alp-Sommer. Dieser tritt mutig dem Winter entgegen. In diesem Aspekt finden sich parallele Verbindungen zu bestimmten heidnischen Gottheiten, denen ähnliche Aufgaben zugeschrieben wurden.

Ein vergleichbarer Bezug zeigt sich bei der nordischen Gottheit Thor, der ebenfalls den Sommer repräsentiert. Er besiegte mit seinem Hammer, dem Donnerkeil, die Frostriesen. Als Triumphator über die Dämonen der Dunkelheit, denen er im Frühling entgegentrat, wurde Odin als Herian (Heerführer) bezeichnet. In ähnlicher Weise steht das Hauri  und das Höll-Hoopi den bösen Geistern des Gebirges gegenüber, deren Herrschaft im Winter beginnt. Sie bedrohen die Menschen, doch Hauri wirkt schützend. Aber auch Odin, der Allvater und Schöpfer in der nordischen Mythologie, ist Herrscher über den Jahreslauf.

Die vorausgehende Erläuterung zur Entstehung der Hauri oder Höll-Hoopi -Legende gilt ebenso für die bösen Gebirgsgeister. Wie die Fantasie der Bergbewohner die wärmenden und vitalisierenden Kräfte der Natur im Frühling und Sommer einer wohlgesinnten Wesenheit zuschrieb, so werden die Naturereignisse des Winters, die oft zerstörerische Auswirkungen haben, als Manifestation der Macht böser, feindlich gesinnter Dämonen betrachtet. Kurz gesagt, während Hauri die mildere Jahreszeit des Sommers verkörpert, personifizieren die bösen Gebirgsgeister den Winter.

Quelle: Schweizerisches Sagenbuch, E. Kohlrusch, Leipzig 1854

 

Die Weissagung des ewigen Juden

Der ewige Jude kommt auf seiner unsteten Wanderung über die weite Erde auch durch das Lauterbrunnental. Er berührt aber den weltabgeschiedenen Winkel nur in Zeitabständen von mehreren Jahre hunderten. Sein unruhvoller Weg führt ihn dem Wasserlauf entlang von Lauterbrunnen über Trachsellauinen auf den Tschingelpass, dann in das Gasterental. Am Steinberg oben stellte man ihm auf seiner letzten Reise das Essen auf den Hüttentotz. Er nahm es dankend an, sass aber nicht ab und verzehrte den Imbiss während stetem Auf- und Abgehen, denn er darf sich ja nur in der letzten Stunde des Tages ausruhen.

Er sagte zu den staunenden Aelpern, dass der höchste Teil des Lauterbrunnentales, von Oberhorn bis Tschingelpass, als er das erstemal kam, ein Rebberg gewesen sei. Das zweitemal, da war es ein Schafberg und jetzt, da er das drittemal hinüberwandere, ein Gletscherberg.

Bevor er Abschied nahm, weissagte er, dass bei seinem nächsten Besuche die ganze enge Talmulde, von Sichellauinen bis hinaus nach Gündlischwand, durch Erdschlipf, Steinschlag und Bachschutt zum obern Rand angefüllt sein werde.

Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunnersagen

Allgemeines

Michel präsentiert im zweiten Teil seiner Sammlung eine alte, weitverbreitete Sage, die bereits seit dem 13. Jahrhundert in Europa bekannt ist. In dieser Erzählung ist ein rastloser Wanderer unterwegs, der nicht sterben kann und den Menschen vergangene und zukünftige Ereignisse offenbart. Ähnliche Sagen sind auch im Berner Oberland und im Wallis verbreitet, sowie in Städten wie Paris und Hamburg.

Michel beschreibt die Begegnung mit dem ewigen Juden auf eine nüchterne Weise, indem er diese mystische Figur mit einfachen Worten in unsere Welt holt. Die Frage, ob der ewige Jude ein Geist oder ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, wird treffend beantwortet: Er scheint ein Mensch zu sein, der jedoch erst in den letzten Stunden des Tages essen, trinken und ruhen kann.

Ursprünglich wurde die Hauptfigur in älteren Versionen nicht immer als Jude bezeichnet, sondern trug Namen wie Cartaphilus, Buttadeo oder Juan Espera en Dios. Die Geschichte des ewigen Juden verbreitete sich im Laufe der Zeit in ganz Europa und wurde zu einer christlichen Legende. Leider wurde sie später auch für antisemitische Zwecke missbraucht, besonders während der Zeit des Nationalsozialismus und dem Propagandafilm „Der ewige Jude“.

Es ist erfrischend, wie Michel die Geschichte des ewigen Juden auf eine sagenhafte Art und Weise neu erzählt. Die Sage zeigt, dass der Mensch mit den Veränderungen in der Natur umgehen kann und dass der Wandel zur Entwicklung gehört. Es regt zum Nachdenken an, wenn man bedenkt, dass die Zeit in der Sage hunderte von Jahren umfasst, aber der Jude dennoch blitzschnell unterwegs zu sein scheint.

Es ist interessant zu bemerken, dass die Geschichte ursprünglich heidnische Wurzeln hat, obwohl sie im späten Mittelalter als christliche Legende adaptiert wurde. Der Name Ahasver ist persischen Ursprungs und hat Verbindungen zum persischen König Xerxes aus dem Buch Esther.

Die Sage des ewigen Juden bleibt faszinierend und wirft viele Fragen auf, die auch heute noch relevant sind.

Mythologisches

Die Sage vom ewigen Juden, die sich durch die schweizerischen Berge zieht, ist geprägt von naturhistorischen Veränderungen und religiöser Symbolik. Strabo L. IV. p. 136., berichtet bereits von den gewaltigen Veränderungen, die in den Bergen stattgefunden haben. Von versteinerten Menschenkörpern und versteinertem Holzgerät wird erzählt, tief unter der Erde im Bergwerkstollen des Berner Oberlandes gefunden.

Die Sage des ewigen Juden, der als Zeuge der Schöpfungsnatur auftritt, verleiht dem Geschehen eine poetische und religiöse Deutung. Die Idee des ewigen Juden repräsentiert für einige das jüdische Volk als Verurteilte, die als Zeugnis ihres frevelhaften Handelns durch die Welt wandern müssen.

Die Legende entstand im Mittelalter, einer Zeit der Judenverfolgungen, und erzählt die Geschichte eines Schusters aus Jerusalem, der als ständiger Zeuge des Gottesmordes umherzieht. Der Ursprung der Sage wird auf das dreizehnte Jahrhundert datiert, basierend auf Aufzeichnungen des englischen Chronisten Mathias Paris.

Der Mythus des ewigen Juden ist somit eine faszinierende Mischung aus Naturgeschichte, religiöser Symbolik und historischen Ereignissen, die bis heute die Fantasie der Menschen beflügelt.

Quellen:

GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

G.C. Kohlrusch: Schweizerisches Sagenbuch, 1854

Wikipedia Der ewige Jude